Konvexe Mengen und Sterngebiete

 Wir betrachten nun Gebiete einer bestimmten geometrischen Form. Wir erinnern an einen Grundbegriff der modernen Mathematik.

Definition (konvex)

Eine Menge C ⊆  heißt konvex, falls für alle z, w  ∈  C gilt, dass [ z, w ] ⊆ C.

 Eine konvexe Menge ist abgeschlossen unter Verbindungslinien zwischen zwei Punkten. Ist C konvex, so ist C zusammenhängend mit den einfachsten aller Wege, den Strecken. Eine Abschwächung der Konvexität ist:

Definition (Sterngebiet)

Ein Gebiet G ⊆  heißt ein Sterngebiet oder sternförmig, falls ein z0  ∈  G gibt mit:

Für alle z  ∈  G ist [ z0, z ] ⊆ G.

Jedes solche z0 heißt ein Zentrum von G.

 Anschaulich: Es gibt einen Aussichtspunkt z0 in G, von dem aus das gesamte Gebiet G sichtbar ist.

 Ist C konvex und ein Gebiet, so ist C ein Sterngebiet. Jeder Punkt von C ist ein Zentrum. Umgekehrt ist ein Sterngebiet G genau dann konvex, wenn jeder Punkt von G ein Zentrum ist. Konvexe Mengen müssen nicht offen sein.

Beispiele

(1)

ist konvex und damit ein Sterngebiet. Das Gleiche gilt für jeden offenen nichtleeren waagrechten oder senkrechten Streifen und für offene nichtleere Sektoren.

(2)

Jede offene ε-Umgebung Uε(w) ist konvex und damit ein Sterngebiet.

(3)

* =  − { 0 } ist kein Sterngebiet: Ist z0  ∈  *, so ist − z0 nicht sichtbar von z0. Analog ist jede Menge der Form ext(Uε(w)) =  − cl(Uε(w)) (Zahlenebene mit Loch) kein Sterngebiet.

(4)

 =  − ] −∞, 0 ] ist nicht konvex, aber ein Sterngebiet. Genau die Punkte auf der positiven x-Achse sind Zentren.

 Die geschlitzte Ebene darf als Paradebeispiel für ein Sterngebiet gelten. Holomorphe Wurzeln und Logarithmen haben einen geschlitzten Definitionsbereich, und oft ist der negative reelle Cut die natürliche Wahl.

 Nach diesen Vorbereitungen können wir nun problemlos den folgenden Integralsatz vom Typ 2 zeigen:

Satz (Integralsatz von Cauchy für Sterngebiete)

Sei G ein Sterngebiet. Dann hat G Nullintegrale für alle fast holomorphen Funktionen.

Beweis

Seien s ein Zentrum von G und f : G   fast holomorph. Wir zeigen: Die Integralfunktion F : G  ,

F(z)  =  [ s, z ] f (ζ) dζ  für alle z  ∈  G,

zum Startpunkt s mit Strecken von s nach z ist eine Stammfunktion von f. Da s ein Zentrum von G ist, ist [ s, z ] ⊆ G für alle z  ∈  G. Damit ist F wohldefiniert.

Wir wiederholen nun den Beweis des Hauptsatzes II, verwenden aber anstelle beliebiger Wege γz, γp von s nach z bzw. p die Strecken von s nach z bzw. w. Diese Strecken liegen nach Voraussetzung in G. Wir können also mit Dreiecken argumentieren, deren Integrale nach Goursat-Pringsheim II Null sind. Der Rest des Beweises bleibt gleich.

 Der Satz kann auch als „Hauptsatz II für Sterngebiete“ formuliert werden, da die Integralfunktion im Zentrum steht. Die Holomorphie-Voraussetzung brauchen wir, damit wir das Lemma von Goursat-Pringsheim bemühen können.

 Wir formulieren noch einmal expizit:

Wegunabhängige Integrale in Sterngebieten

In einem Sterngebiet sind Integrale über holomorphe Funktionen wegunabhängig. Zur Definition der Integralfunktion können beliebige Wege in G verwendet werden, nicht nur Strecken. Ein Wegintegral kann mit jeder Stammfunktion des Integranden durch Auswertung an den Grenzen berechnet werden.

 Unser Paradebeispiel ist erneut 1/z. Der Definitionsbereich ist entscheidend:

Beispiel

(1)

Sei f :   mit f (z) = 1/z für alle z ≠ 0. Dann besitzt f keine Stammfunktion (da das Kreisumlaufintegral nicht 0 ist). Das Gebiet * ist kein Sterngebiet.

(2)

Sei f :    mit f (z) = 1/z für alle z  ∈  . Die Funktion f besitzt auf dem Sterngebiet G eine Stammfunktion, etwa den Hauptzweig des komplexen Logarithmus. Er lässt sich durch Umkehrung der Exponentialfunktion gewinnen oder äquivalent durch Integration entlang Strecken beginnend im bevorzugten Zentrum 1. Das Gleiche gilt für jede andere entlang einer Halbgeraden durch 0 geschlitzten Ebene als Definitionsbereich.

 Eine einfache, aber wichtige Folgerung aus dem Integralsatz ist:

Korollar (lokale Existenz von Stammfunktionen)

Sei f : P   holomorph. Dann existieren lokale Stammfunktionen von f. Genauer gilt: Ist p  ∈  P und r > 0 maximal mit Ur(p) ⊆ P, so existiert eine Stammfunktion F : Ur(p)   von fUr(p).

Beweis

Jede Menge Ur(p) ist konvex und damit ein Sterngebiet.

 Wir geben noch ein Beispiel für die Anwendung des Integralsatzes mit einem Ausnahmepunkt. Die Überlegung wird später beim Beweis der Integralformel von Cauchy wichtig werden.

Satz (Stammfunktion des Differenzenquotienten)

Sei f : G   holomorph auf einem Sterngebiet G. Weiter sei p  ∈  P und g : G   definiert durch

g(z)  =  f [ z, p ]  =  f (z) − f (p)z − p  für z ≠ p,  g(p)  =  f ′(p).

Dann hat g eine Stammfunktion.

Beweis

Die Funktion g ist stetig und holomorph in G − { p }. Also folgt die Behauptung aus dem Integralsatz.

Schreiben wir in der Situation des Satzes

f (z)  =  f (p)  +  f ′(p) (z − p)  +  r(z)  mit  r(z) = o(z − p)  für  z  p,

und definieren wir h : G   durch

h(z)  =  r(z)/(z − p)  =  g(z) − f ′(p)  für z ≠ p,  h(p)  =  0,

so besitzt die stetige Funktion h wie g eine Stammfunktion.