1.6 Injektive, surjektive und bijektive Funktionen
Definition (injektiv, surjektiv, bijektiv)
Sei f : A → B. Dann heißt f
(a) | injektiv, falls für alle x1, x2 ∈ A mit x1 ≠ x2 gilt, dass f (x1) ≠ f (x2), |
(b) | surjektiv (auf B), falls Bild(f) = B, |
(c) | bijektiv, falls f injektiv und surjektiv auf B ist. |
injektiv: Verschiedene Stellen haben verschiedene Bilder.
surjektiv: Jedes y ∈ B hat mindestens ein Urbild.
Die Injektivität einer Funktion ist eine Eigenschaft von f. Für die beiden anderen Eigenschaften ist die Spezifikation eines Wertevorrats, also die Angabe von f in der Form f : A → B notwendig. Neben der Bezeichnung „injektiv“ ist im Deutschen auch „eineindeutig“ gebräuchlich. Weiter spricht man auch substantivisch von Injektionen, Surjektionen und Bijektionen.
Die drei Begriffe haben eine sehr anschauliche Bedeutung. Injektivität bedeutet, dass kein Wert zweimal angenommen wird, Surjektivität bedeutet, dass jeder Wert des ins Auge gefassten Wertevorrats angenommen wird, und Bijektivität bedeutet, dass die Funktion f die Elemente von A und B vollständig paart, d. h., jedem Element von A wird genau ein Element von B zugeordnet und umgekehrt.
Jede Waagrechte durch y ∈ [ 0, 1 ] trifft f in genau einem Punkt.
Für reelle Funktionen f : A → B existiert eine weitere anschauliche Interpretation: f ist injektiv, wenn jede Waagrechte der Ebene den Funktionsgraphen in höchstens einem Punkt schneidet. Und f ist surjektiv auf B, wenn jede Waagrechte der Ebene, die die Menge B der y-Achse trifft, den Funktionsgraphen in mindestens einem Punkt schneidet. Damit ist also eine Funktion f : A → B genau dann bijektiv, wenn jede Waagrechte durch B genau einen Punkt mit dem Graphen von f gemeinsam hat.
Beispiele
(1) | cos : ℝ → ℝ ist weder injektiv noch surjektiv, cos : ℝ → [ −1, 1 ] ist surjektiv. |
(2) | f : ℝ → [ 0, +∞ [ mit f (x) = x2 für alle x ∈ ℝ ist surjektiv. |
(3) | g : ℝ → ℝ mit f (x) = x3 für alle x ∈ ℝ ist bijektiv. |
(4) | tan : ] −π/2, π/2 [ → ℝ und log : ] 0, +∞ [ → ℝ sind Bijektionen. |
Sind M und N Mengen und existiert ein injektives f : M → N, so hat die Menge M anschaulich höchstens so viele Elemente wie die Menge N, denn jedem x ∈ M entspricht ein eindeutiges y ∈ N, nämlich y = f (x). Man definiert deswegen
|M| ≤ |N|, falls ein injektives f : M → N existiert, (Mächtigkeitsvergleich)
und sagt, dass die Mächtigkeit oder Kardinalität von M kleinergleich der Mächtigkeit oder Kardinalität von N ist. Analog definiert man
|M| = |N|, falls ein bijektives f : M → N existiert, (Gleichmächtigkeit)
und sagt, dass M und N gleichmächtig sind oder die gleiche Kardinalität haben.
Beispiel
Nach Beispiel (4) gilt |] − π/2, π/2 [| = |ℝ| und |] 0, +∞ [| = |ℝ|.
Die Begriffsbildungen liefern eine Möglichkeit zur Definition der Endlichkeit und Unendlichkeit. Dabei genügt es, einen Begriff zu definieren, der andere ergibt sich dann durch Verneinung: „unendlich“ = „nicht endlich“ bzw. „endlich“ = „nicht unendlich“. Die folgende Tabelle stellt drei verschiedene äquivalente Möglichkeiten vor, dies zu tun.
M heißt … | falls … | falls … | falls … |
endlich | es gibt ein n ∈ ℕ mit |M| = |{ 0, …, n − 1 }| | ||
unendlich | |ℕ| ≤ |M|, d. h., es gibt ein injektives f : ℕ → M | es gibt eine echte Teilmenge N von M mit |N| = |M| |
Die erste Definition besagt, dass eine Menge M endlich ist, wenn wir sie mit natürlichen Zahlen 0, …, n − 1 durchzählen können (n = 0 entspricht dem Fall M = ∅). Die zweite Definition nennt eine Menge M unendlich, wenn wir in ihr via
f (0), f (1), f (2), …, f (n), …
zählen können, d. h., M enthält eine „Kopie“ von ℕ. Bei der dritten Definition schließlich werden die unendlichen Mengen dadurch definiert, dass sie das klassische Prinzip
„das Ganze ist größer als der Teil“
verletzen. Diese auf Richard Dedekind zurückgehende Definition setzt als einzige die natürlichen Zahlen nicht voraus. Ihr genügt der Mengen- und Funktionsbegriff.
Nun wird der Leser vielleicht fragen, ob hier nicht viel Aufwand um recht wenig getrieben wird: Endlichkeit ist anschaulich klar und die nicht endlichen Mengen sind eben die unendlichen Mengen. Neben einer genauen mathematischen Definition der Unendlichkeit, die ja sicher philosophisch interessant ist, zeigt sich aber, dass im Reich des Unendlichen Größenunterschiede existieren, die durch den Mächtigkeitsvergleich mit Bijektionen ans Licht gebracht werden. Dieses spannende und für die Analysis bedeutsame Phänomen werden wir im zweiten Kapitel kennenlernen.