2.11Komplexe Zahlen

Definition (komplexe Zahlen, Realteil, Imaginärteil, imaginäre Einheit)

Wir setzen  = 2 und nennen jedes Element von  eine komplexe Zahl.

Für alle (x1, y1), (x2, y2)  ∈   definieren wir:

(x1, y1)  +  (x2, y2)  =  (x1 + x2,  y1 + y2), (komplexe Addition)

(x1, y1)  ·  (x2, y2)  =  (x1 x2 − y1 y2,  x1 y2 + y1 x2). (komplexe Multiplikation)

Ist z = (x, y)  ∈  , so heißen Re(z) = x der Real- und Im(z) = y der Imaginärteil von z.

Weiter sei i = (0, 1). Die komplexe Zahl i heißt die imaginäre Einheit.

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Eine geometrische Deutung der komplexen Multiplikation entwickeln wir unten und in 12. 2.

 Die komplexen Zahlen sind aus historischen Gründen geheimnisumwittert. Das traditionelle Adjektiv „imaginär“ suggeriert, dass diese Zahlen im Gegensatz zu den reellen Zahlen nicht wirklich existieren, sondern Erfindungen unseres Geistes sind. Aus heutiger Sicht ist der Realitätsunterschied zwischen  und  = 2 verschwindend gering. Die komplexen Zahlen sind geordnete Paare reeller Zahlen, die wir als Punkte der Ebene vor uns sehen können. Sie lassen sich durch eine natürliche Fragestellung motivieren, die von einer Aufarbeitung der Geschichte der komplexen Zahlen unabhängig ist:

Kann man auf der Ebene 2 eine Addition und eine Multiplikation so definieren, dass

(2, +, ·) ein Körper ist? Ist dies auch für 3, 4, 5, … möglich?

 Dass wir Vektoren der Ebene addieren können, ist gut bekannt, und die komplexe Addition ist nichts anderes als die übliche Vektoraddition. Sie erfüllt die ersten vier Körperaxiome mit additiv neutralem Element 0 = (0, 0). Die komplexe Multiplikation ist dagegen trickreicher, aber sie leistet, was wir wollen:

Satz (Körperstruktur von )

(, +, ·) = (2, +, ·) ist ein Körper mit 0 = (0, 0) und 1 = (1, 0).

 Die Antwort auf die Frage ist also „ja“ für 2. Dagegen ist sie „nein“ für alle n ≥ 3: Es ist nicht mehr möglich, auf 3, 4, … eine Körperstruktur zu erklären. Die Ebene ist in diesem Sinn etwas besonderes!

 Indem wir die x-Achse der Ebene mit  identifizieren, können wir  ⊆  annehmen. Die komplexe Arithmetik ist dann eine Fortsetzung der reellen Arithmetik, da z. B.

x y  =  (x, 0) · (y, 0)  =  (x y − 0 · 0, x 0 + 0 y)  =  (x y, 0)  =  x y.

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 Erst der algebraische Kalkül von  macht die Vektoren der Ebene zu gefühlten Zahlen. Er wird von der imaginären Einheit dominiert:

Die Rolle der imaginären Einheit i = (0, 1)

Für alle (x, y)  ∈   gilt:

i · (x, y)  =  (0, 1) · (x, y)  = 

(0 x − 1 y, 0 y + 1 x)  =  (− y, x).

Geometrisch gelesen bedeutet dies:

Die Multiplikation von (x, y) mit der imaginären Einheit i

ist die Drehung des Vektors (x, y) um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn.

Speziell ist

i2  =  i · i  =  i · (0, 1)  =  (−1, 0)  =  −1   ∈   .

Weiter erhalten wir für alle z = (x, y)  ∈   die fundamentale Darstellung

z  =  (x, y)  =  (x, 0)  +  (0, y)  =  (x, 0)  +  i (y, 0)  =  x + i y  =  Re(z)  +  i Im(z).

Die komplexe Multiplikation lässt sich mit diesen Formeln rekonstruieren:

(x1, y1) (x2, y2)  =  (x1 + i y1) (x2 + i y2)  =

  x1 x2  +  i2 y1 y2  +  i (x1 y2 + x2 y1)  =  (x1 x2 − y1 y2,  x1 y2 + y1 x2).

 Wegen i2 = −1 gilt, wenn man die Wurzelschreibweise verwenden möchte, die Identität i = 1. Sie ist nicht nur berühmt, sondern auch berüchtigt, da sie zu Fehlern wie

„−1  =  i2  =  1 1  =  (1)(1)  =  1  =  1“

führen kann. Ohne jede Wurzelmystik sind aber i und −i untadelige komplexe Lösungen der algebraischen Gleichung z2 + 1 = 0. Allgemein gilt:

Satz (Fundamentalsatz der Algebra)

Sei ak zk + … + a1 z + a0 = 0 eine algebraische Gleichung k-ten Grades mit komplexen Koeffizienten. Dann gibt es komplexe Zahlen w1, …, wk, sodass

ak zk + … + a1 z + a0  =  ak (z − w1) · (z − w2) · … · (z − wk)  für alle z  ∈  .

Die Gleichung hat also genau die komplexen Lösungen w1, …, wk.

 Im Zahlensystem  ⊂  ⊂  ⊂  ⊂  beobachten wir also vier Erweiterungsschritte:

freie Subtraktion, freie Division, Vollständigkeit, Lösbarkeit von Gleichungen.

Beim Schritt von  nach  geht aber auch etwas verloren: Der Körper der komplexen Zahlen lässt sich nicht anordnen. Denn in jedem angeordneten Körper gilt x2 ≥ 0 für alle x, und dies ist in  für i = (0, 1) verletzt. In  ist also ein „Kleiner“ und „Größer“ nicht mehr vorhanden. Das ist für Objekte, die wir Zahlen nennen, sicher gewöhnungsbedürftig.