2.2 Algebraische und transzendente Zahlen
Definition (algebraische und transzendente Zahlen, 𝔸)
Eine reelle Zahl x heißt algebraisch, falls rationale Zahlen a0, …, ak mit ak ≠ 0 existieren, sodass
ak xk + ak − 1 xk− 1 + … + a1 x + a0 = 0.
Wir setzen
𝔸 = { x ∈ ℝ | x ist algebraisch }.
Eine reelle Zahl x heißt transzendent,
falls x nicht algebraisch ist.
Die algebraischen Zahlen sind die Nullstellen von Polynomen mit rationalen Koeffizienten. Auch die Funktion f, die um die 0 herum wie der Sinus aussieht, ist ein solches Polynom (nämlich die Taylor-Approximation 21. Grades des Sinus im Nullpunkt, vgl. 7.12). Die erste positive Nullstelle p von h ist
p = 3,14159265360…, während
π = 3,14159265358…
Es ist wichtig, nur rationale Koeffizienten a0, …, ak zuzulassen. Denn a ist eine Lösung von x − a = 0, sodass also jede reelle Zahl trivialerweise die Lösung einer algebraischen Gleichung mit reellen Koeffizienten ist. Dagegen erhalten wir die gleiche Menge 𝔸, wenn wir nur ganzzahlige Koeffizienten betrachten. Multiplizieren wir nämlich die rationalen Koeffizienten a0, …, ak einer Gleichung mit ihrem gemeinsamen Hauptnenner, so erhalten wir eine neue Gleichung mit ganzzahligen Koeffizienten, die dieselben Lösungen wie die ursprüngliche Gleichung besitzt.
Beispiele
(1) | Die Gleichungen der Form a x − b = 0 mit ganzen Zahlen a und b, a ≠ 0, zeigen, dass jede rationale Zahl algebraisch ist. |
(2) | Die Gleichung x2 − 2 = 0 zeigt, dass und − algebraisch sind. Damit ist insbesondere 𝔸 eine echte Obermenge von ℚ. |
(3) | Allgemeiner als (2) sind alle reellen Lösungen von Gleichungen zweiten Grades x2 + b x + c = 0 mit rationalen Koeffizienten b und c algebraisch. Nach der Lösungsformel für quadratische Gleichungen sind dies im Fall einer nichtnegativen Diskriminante b2 − 4c genau die Zahlen x1, 2 = . |
(4) | Die Lösungen von x5 + 3 x4 − 2 x2 + x − 1 = 0 sind algebraisch. Das obige Diagramm zeigt den Graphen des zugehörigen Polynoms f : ℝ → ℝ, f (x) = x5 + 3 x4 − 2 x2 + x − 1 für alle x. |
Auf die Menge 𝔸 haben wir keinen so guten Zugriff wie auf ℚ, weil es uns an einfachen Darstellungen wie n/m oder Charakterisierungen wie der Periodizität der Dezimaldarstellung mangelt. Lösungsformeln stehen nur noch für die Grade 3 und 4 zur Verfügung, danach müssen wir meistens Näherungsverfahren einsetzen, um Lösungen zu berechnen. Allerdings kann man zeigen, dass Summe, Differenz, Produkt und Quotient zweier algebraischer Zahlen wieder algebraisch sind. Wir können also in 𝔸 frei rechnen, ohne 𝔸 zu verlassen. Zusammen mit den Polynomfunktionen, deren Graphen uns die algebraischen Zahlen als Nullstellen vor Augen führen, entsteht so doch mit der Zeit ein Gefühl für die Natur dieser Zahlenmenge.
Gibt es überhaupt transzendente Zahlen oder sind alle reellen Zahlen algebraisch? Frühe Kandidaten für transzendente Zahlen waren die Kreiszahl π und die Eulersche Zahl e. Johann Lambert vermutete die Transzendenz dieser Zahlen in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als ihm ein Beweis der Irrationalität von π gelang. Aber es waren nicht π oder e, sondern spielerisch konstruierte irrationale Zahlen, die zuerst als transzendent erkannt wurden. Joseph Liouville bewies Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die „künstliche“ reelle Zahl
0,1100010000000000000000001…,
in der die Einsen nur an den Nachkommastellen
1 ! = 1, 2 ! = 1 · 2 = 2, 3 ! = 1 · 2 · 3 = 6, 4 ! = 1 · 2 · 3 · 4 = 24, …
auftreten, transzendent ist. Seine Methoden wurden von Charles Hermite und Ferdinand von Lindemann aufgegriffen, sodass e und π als transzendent nachgewiesen werden konnten. Heute weiß man viel über transzendente Zahlen, aber nicht alles:
Beispiele
(1) | Transzendent sind: e, π, e2, π2, e, 2, eπ, sin(3), log(1/3). |
(2) | Es ist unbekannt, ob π + e = 5,859874482048838473822… transzendent ist. |
Durch den Nachweis der Transzendenz von π wurde zugleich auch ein Jahrtausende altes Problem gelöst. Denn man kann zeigen, dass alle Zahlgrößen, die sich aus einer gegebenen Einheitsstrecke mit Zirkel und Lineal konstruieren lassen, algebraisch sind. Folglich lässt sich ein Kreis mit Radius 1 nicht mit Zirkel und Lineal in ein flächengleiches Quadrat verwandeln. Denn dieses Quadrat hätte die Seitenlänge s = . Die reelle Zahl s und damit auch π = s2 wäre dann algebraisch, was nicht der Fall ist. Die „Quadratur des Kreises“ ist also unmöglich.
Insgesamt gilt wie für die rationalen Zahlen:
Die algebraischen Zahlen sind kein gutes Modell für ein Kontinuum.
In der folgenden Sektion werden wir sehen, dass wir mit 𝔸 von ℝ nicht nur ein paar Schritte, sondern Lichtjahre entfernt sind.