2.6 Supremum und Infimum
Definition (obere Schranke, untere Schranke, Supremum, Infimum)
Sei K ein angeordneter Körper, und seien X ⊆ K und s ∈ K. Dann heißt s
(a) | eine obere Schranke von X, in Zeichen X ≤ s, falls gilt: x ≤ s für alle x ∈ X, |
(b) | das Supremum von X, in Zeichen s = sup(X), falls gilt: s ist die kleinste obere Schranke von X, d. h. X ≤ s und für alle s′ ≥ X gilt s ≤ s′, |
(c) | eine untere Schranke von X, in Zeichen s ≤ X, falls gilt: s ≤ x für alle x ∈ X, |
(d) | das Infimum von X, in Zeichen s = inf (X), falls gilt: s ist die größte untere Schranke von X, d. h. s ≤ X und für alle s′ ≤ X gilt s′ ≤ s. |
Ein X ⊆ K heißt nach oben (unten) beschränkt, falls ein s existiert mit X ≤ s (s ≤ X).
Weiter heißt X beschränkt, falls X nach oben und unten beschränkt ist.
X ⊆ K
Mit dem Begriff des angeordneten Körpers haben wir den Unterschied zwischen den reellen Zahlen und den rationalen Zahlen noch nicht erfasst: ℝ und ℚ sind durch die Axiome (K1) − (K15) nicht unterscheidbar. Die Begriffe „Supremum“ und „Infimum“ sind geeignet, dies zu leisten, und wir werden in der nächsten Sektion mit ihrer Hilfe die reellen Zahlen axiomatisch charakterisieren. Hier wollen wir diese beiden Schlüsselbegriffe für sich betrachten, da es Anfängern oft Schwierigkeiten bereitet, ihre Definitionen wiederzugeben. Ein sicherer Umgang mit Suprema und Infima ist in der Analysis sehr wichtig. Und die Mühe der Aneignung lohnt sich, denn viele Argumente lassen sich mit Suprema und Infima einfach und elegant führen.
Für die Analysis spielen die Begriffe der Definition vor allem für K = ℚ und K = ℝ eine Rolle und wir konzentrieren uns im Folgenden auf diese Fälle. Dem Leser wird empfohlen, zunächst nur K = ℝ zu betrachten und danach K = ℚ zur Kontrastbildung. Erst für die axiomatische Charakterisierung von ℝ in der nächsten Sektion wird die Definition für beliebige angeordnete Körper gebraucht.
Sei also K = ℝ, und sei X ⊆ ℝ eine beliebige „lineare Punktmenge“. Diese Punktmenge kann zum Beispiel aus den Gliedern x0, x1, …, xn, … einer Folge bestehen oder aus Intervallen zusammengesetzt sein. Auch jede noch so „chaotische“ und „zerstäubte“ Teilmenge von ℝ ist zugelassen. Dann bedeutet X ≤ s für ein s ∈ ℝ, dass die reelle Zahl s rechts der Punktmenge liegt, wobei s auch der Menge X angehören kann (ist dies der Fall, so hat X ein größtes Element und dieses ist gleich s). Stärker als X ≤ s bedeutet s = sup(X), dass der Punkt s rechts der Punktmenge liegt, aber jede Verkleinerung von s nicht mehr rechts der Punktmenge liegt, sondern in die Menge hinein- oder durch sie hindurchführt. Das Supremum von X ist anschaulich diejenige reelle Zahl, die X von rechts „berührt“, das „rechte Ende“ von X oder der „obere Grenzpunkt“ von X.
Beispiele für den Körper der reellen Zahlen
(1) | [ 0, 1 ] ≤ 2, 1 ≤ { x > 2 | x ist rational }, { 1 } ≤ 1, 2 ≤ ∅. |
(2) | sup(] 0, 1 [) = sup(] 0, 1 ]) = 1 = inf(] 1, 2 [) = inf([ 1, 2 ]). |
(3) | sup([ 0, 1 ] ∪ { 2 }) = 2, sup({ 1 }) = inf({ 1 }) = 1. |
(4) | sup({ }), inf (ℚ), sup(] 0, +∞ [) existieren nicht, 0 = inf(] 0, +∞ [). |
(5) | 1 = sup({ 0,9; 0,99; 0,999; … }) = inf ({ 1,1; 1,01; 1,001; … }). |
(6) | = sup({ x ∈ ℝ | x2 < 2 }) = inf ({ x ≥ 0 | x2 ≥ 2 }). |
(7) | π = sup({ 3; 3,1; 3,14; 3,141; 3,1415; … }). |
Beispiele für den Körper der rationalen Zahlen
(1) − (5) gelten in ℚ genau wie in ℝ, aber
sup({ x ∈ ℝ | x2 < 2 }), inf ({ x ≥ 0 | x2 ≥ 2 }), sup({ 3; 3,1; 3,14; 3,141; … })
existieren nicht in ℚ.
Um zu beweisen, dass s das Supremum von X ist, kann man zeigen:
(S1) Sei x ∈ X. Dann gilt x ≤ s.
(S2) Sei s′ derart, dass x ≤ s′ für alle x ∈ X. Dann gilt s ≤ s′.
Zum Beweis von (S1) betrachtet man ein beliebiges x ∈ X und zeigt x ≤ s. Zum Beweis von (S2) nimmt man dagegen an, dass ein s′ ∈ K vorliegt, das größer oder gleich jedem Element x von X ist. Nun muss man zeigen, dass s ≤ s′ gilt. Kurz: Man zeigt, dass s eine obere Schranke von X ist und dass s besser als jede andere obere Schranke von X ist.
Eine Variante dieses Beweismusters für „s = sup(X)“, die sich sowohl für K = ℚ als auch für K = ℝ eignet, lautet:
(S1) Sei x ∈ X. Dann gilt x ≤ s.
(S2)* Sei n ≥ 1. Dann gibt es ein x ∈ X mit s − 1/n ≤ x.
Analoge Beweismuster gelten für „s = inf (X)“.