2.9 Die Intervallschachtelung
Satz (Prinzip der Intervallschachtelung)
Seien In = [ an, bn ] abgeschlossene Intervalle mit an ≤ bn für alle n ∈ ℕ.
Weiter gelte I0 ⊇ I1 ⊇ … ⊇ In ⊇ …, d. h., es gelte
a0 ≤ a1 ≤ … ≤ an ≤ … ≤ bn ≤ … ≤ b1 ≤ b0.
Sei dann
I = ⋂n ∈ ℕ In = ⋂ { In | n ∈ ℕ }.
Dann ist I ein Intervall der Form [ a, b ] mit a ≤ b. Insbesondere ist I nichtleer.
a = supn an
b = infn bn
Das Prinzip ist sehr anschaulich und bereitet für sich genommen auch keine größeren Schwierigkeiten. Unsicherheiten bestehen aber zuweilen bei der Verwendung der Durchschnitte. Ist 𝒜 eine Menge von Mengen, so ist der „große Durchschnitt“ ⋂ 𝒜 erklärt als
⋂ 𝒜 = ⋂A ∈ 𝒜 A = { x | für alle A ∈ 𝒜 gilt x ∈ A }.
Wir sammeln also alle x auf, die in jedem Element A von 𝒜 als Element enthalten sind. In der Situation des Satzes ist damit
I = ⋂n ∈ ℕ In = ⋂ { In | n ∈ ℕ } = { x | für alle n gilt x ∈ In }
die Menge aller Punkte, die jedem Intervall In angehören. Es gilt
I ⊆ … ⊆ In ⊆ … ⊆ I2 ⊆ I1 ⊆ I0,
das Intervall I ist also ein Teilintervall aller Intervalle In.
Der Satz besagt, dass das „Zusammenschrumpfen“ eines Intervalls [ a, b ] nicht im Nichts endet, wenn jedes Schrumpfen ein abgeschlossenes Intervall hinterlässt. Wir betrachten hierzu einige Beispiele und Gegenbeispiele.
Beispiele
(1) | ⋂n ∈ ℕ [ 0, 1 + 1/10n ] = [ 0, 1 ]. |
(2) | ⋂n ∈ ℕ [ x − 1/2n, x + 1/2n ] = { x } für alle x ∈ ℝ. |
(3) | ⋂n ∈ ℕ ] 0, 1/2n [ = ∅. |
(4) | ⋂n ∈ ℕ [ n, +∞ [ = ∅. |
(5) | ⋂n ≥ 1 ] −1/n, 1/n [ = { 0 }. |
Die beiden ersten Beispiele zeigen, dass der Durchschnitt der betrachteten Intervalle von der Form [ a, b ] mit a < b sein kann, aber auch von der Form [ a, b ] = { a } = { b } mit a = b. Im zweiten Fall gibt es genau einen Punkt, der in allen Intervallen als Element enthalten ist. Diese Eindeutigkeit taucht in der Praxis häufig auf, etwa dann, wenn die Länge des Intervalls In + 1 immer kleinergleich der Hälfte der Länge des Intervalls In ist. Allgemein besteht I genau dann aus einem einzigen Punkt, falls für alle ε > 0 ein n existiert, sodass die Länge von In (und folglich auch die Länge von Im für alle m > n) kleiner ist als ε.
Die Beispiele (3) und (4) zeigen, dass die Aussage des Satzes im Allgemeinen nicht mehr richtig ist, wenn wir offene oder unbeschränkte abgeschlossene Intervalle verwenden. Die Intervalle
] 0, 1 [, ] 0, 1/2 [, ] 0, 1/4 [, …
ziehen sich auf die leere Mengen zusammen, und auch die Intervalle
[ 0, +∞ [, [ 1, +∞ [, [ 2, +∞ [, …
verlieren, obwohl sie alle unendlich lang sind, im Laufe der Verkleinerung ebenfalls jeden ihrer Punkte. Natürlich können, wie in Beispiel (5), auch offene geschachtelte Intervalle einen nichtleeren Schnitt besitzen. Aber für die allgemeine Gültigkeit der Aussage ist es wichtig, dass die Intervalle abgeschlossen und beschränkt sind. Intervalle dieses Typs sind auch als kompakte Intervalle bekannt. Sie tauchen in verschiedenen prominenten Sätzen der Analysis auf, etwa im Satz, dass jede stetige Funktion auf einem kompakten Intervall ihr Maximum annimmt. Später werden die kompakten Intervalle in der Analysis zu kompakten Mengen verallgemeinert und mit dem Auge der Topologie weiter untersucht.
Mit Hilfe von Suprema und Infima wird der Beweis des Prinzips der Intervallschachtelung sehr einfach. Es gilt
I = [ sup({ an | n ∈ ℕ }), inf ({ bn | n ∈ ℕ }) ],
das Durchschnittsintervall ist also definiert durch das Supremum der linken Intervallgrenzen und das Infimum der rechten Intervallgrenzen. Umgekehrt kann man die Intervallschachtelung (zusammen mit der archimedischen Anordnung) als Axiom ansehen und dann das Vollständigkeitsaxiom beweisen. Das Prinzip ist damit für ℚ und 𝔸 falsch, was zum Beispiel durch Intervalle in ℚ bzw. 𝔸, die sich in ℝ auf die Menge { π } zusammenziehen, direkt belegt werden kann. So ist ⋂n In = ∅, falls
In = { x ∈ 𝔸 | π − 1/2n ≤ x ≤ π + 1/2n } für alle n.
Die Mengen In sind keine Intervalle in ℝ, aber sie sind Intervalle in 𝔸.
Die Intervallschachtelung lässt sich in der Analysis zum Beispiel verwenden, um den Satz von Bolzano-Weierstraß und den Zwischenwertsatz zu beweisen. Die Intervalle In werden dann oft rekursiv definiert. Man konstruiert I1 mit Hilfe eines gegebenen Intervalls I0, I2 mit Hilfe von I1, allgemein In + 1 mit Hilfe von In. Besonders beliebt ist dabei die fortgesetzte Halbierung. Hier zerlegt man In in zwei gleich lange Teilintervalle und wählt als In + 1 diejenige Hälfte, die eine gewisse gute Eigenschaft hat. Dann ist das eindeutige x im Durchschnitt aller Intervalle In oft ebenfalls ein guter Punkt, etwa ein Häufungspunkt einer Menge oder eine Nullstelle einer Funktion.