5.12 Potenzreihen
Definition (Potenzreihe, Konvergenzbereich)
Für an, p, x ∈ ℝ heißt die Reihe ∑n an (x − p)n die Potenzreihe mit Koeffizienten an und Entwicklungspunkt p im Punkt x. Weiter setzen wir
K = { x ∈ ℝ | die Reihe ∑n an (x − p)n konvergiert }.
Die Menge K heißt der Konvergenzbereich der Potenzreihe ∑n an (x − p)n.
Um uns den neuen Begriffen zu nähern, nehmen wir zunächst p = 0 an. Dann hat eine Potenzreihe die Form ∑n an xn. Derartige mit einer Variablen x präsentierte Reihen sind uns schon begegnet:
Beispiele
(1) | Die geometrische Reihe ∑n xn ist eine Potenzreihe mit den Koeffizienten an = 1 für alle n und dem Konvergenzbereich K = ] −1, 1 [. Für x ∈ K gilt ∑n xn = 1/(1 − x) (vgl. 4. 3). |
(2) | Die Exponentialreihe ∑n xn/n ! ist eine Potenzreihe mit den Koeffizienten an = 1/n ! für alle n. Es gilt K = ℝ und ∑n xn/n ! = ex für alle x (vgl. 4. 12). |
Jede Potenzreihe ∑n an xn definiert eine Funktion auf ihrem Konvergenzbereich K, die oft ebenfalls mit ∑n an xn bezeichnet wird. Damit steht „∑n an xn“ für jedes x ∈ ℝ für eine Reihe, für jedes x ∈ K für eine reelle Zahl (die Summe der Reihe) und zudem jetzt auch noch für eine Funktion auf K.
Lassen wir beliebige Entwicklungspunkte p zu, so unterscheiden sich die Funktionen ∑n an (x − p)n von ∑n an xn nur durch eine Translation um p. Bei der Untersuchung des Konvergenzverhaltens von Potenzreihen können wir also ohne Verlust p = 0 annehmen.
Die große Frage, die sich auch wieder durch den Blick auf die Exponentialfunktion exp : ℝ → ℝ mit exp(x) = ∑n xn/n ! motivieren lässt, lautet:
Welche Funktionen f : ℝ → ℝ lassen sich als Potenzreihe darstellen, d. h., wann gibt es Koeffizienten an mit f (x) = ∑n an xn für alle x? Wie berechnen wir die Koeffizienten?
In der reellen Differentialrechnung kann man diese Fragen ganz gut beantworten, in der komplexen Analysis (der Funktionentheorie) perfekt; in ℂ lässt sich jede differenzierbare Funktion als Potenzreihe darstellen, in ℝ nicht. Die Koeffizienten gewinnt man durch Differenzieren. Wir verweisen den Leser hierzu auf 7. 12.
Die Konvergenzbereiche der geometrischen Reihe und der Exponentialreihe sind typisch. Der Konvergenzbereich K einer Potenzreihe ∑n an xn ist immer ein symmetrisches Intervall um den Nullpunkt, also von der Form
] −R, R [, ] −R, R ], [ −R, R [, [ −R, R ],
wobei der sog. Konvergenzradius R auch gleich +∞ sein kann. Dieser lässt sich durch
R = (Formel von Cauchy-Hadamard)
berechnen, wobei wir für diese Formel „1/0 = +∞“ vereinbaren.
Alle vier Intervalltypen können als Konvergenzbereich auftreten. Die geometrische Reihe liefert ein Beispiel für den offenen Fall, die drei anderen Fälle werden durch die folgenden Beispiele belegt.
Beispiele
(1) | ∑n ≥ 1 xn/n hat den Konvergenzbereich [ −1, 1 [. Der Punkt x = 1 entspricht der harmonischen Reihe und x = −1 der alternierenden harmonischen Reihe. |
(2) | ∑n ≥ 1 (−1)n/n xn hat den Konvergenzbereich ] −1, 1 ]. Nun entspricht x = 1 der alternierenden harmonischen Reihe und x = −1 der harmonischen Reihe. Die definierte Funktion ist die Spiegelung der Funktion in (1) an der y-Achse, da ∑n ≥ 1 (−1)n/n xn = ∑n ≥ 1 (−x)n/n. |
(3) | ∑n ≥ 1 xn/n2 hat den Konvergenzbereich [ −1, 1 ]. |
Die durch die Potenzreihe in Beispiel (1) definierte Funktion lässt sich mit Methoden der Differential- und Integralrechnung bestimmen. Es gilt
∑n ≥ 1 xn/n = − log(1 − x) für alle x ∈ [ −1, 1 [, d. h.
∑n ≥ 1 (−1)n − 1/n xn = log(1 + x) für alle x ∈ ] −1, 1 ] (Logarithmus-Reihe)
mit dem Logarithmus zur Basis e. Das Einsetzen von x = 1 liefert
log (2) = ∑n ≥ 1 (−1)n − 1/n 1n = 1 − 1/2 + 1/3 − 1/4 + …
Die Bestimmung der durch eine Potenzreihe dargestellten Funktion ist im Allgemeinen sehr schwierig. Man weiß zumindest, dass sie stetig ist:
Satz (Abelscher Grenzwertsatz)
∑n an xn ist stetig auf ihrem Konvergenzbereich K.
Man kann durch Majorisierung mit einer geometrischen Reihe zeigen, dass ∑n an xn für alle r < R gleichmäßig auf ] − r, r [ konvergiert, d. h., für alle ε > 0 existiert ein n0, sodass |∑n > n0 anxn| < ε für alle x mit |x| < r. Dies liefert die Stetigkeit der Potenzreihe auf allen Intervallen ] − r, r [, r < R, und damit auf ] − R, R [. Der Knackpunkt des Abelschen Satzes sind die Randpunkte −R und R von K, falls diese zu K gehören.