5.6 Die Lipschitz-Stetigkeit
Definition (Lipschitz-Stetigkeit)
Eine Funktion f : P → ℝ heißt Lipschitz-stetig oder dehnungsbeschränkt, falls ein L ≥ 0 existiert mit
∀p ∈ P ∀x ∈ P |f (x) − f (p)| ≤ L |x − p|. (Lipschitz-Bedingung für L)
Die Zahl L heißt dann eine Lipschitz-Konstante für f.
In der Lipschitz-Bedingung sind die reellen Variablen ε und δ verschwunden, die Abschätzung der Abstände übernimmt eine Konstante L. Die Bedingung besagt, dass der Abstand je zweier Punkte p und x durch Anwendung der Funktion höchstens um den Faktor L gestreckt wird (wobei Lipschitz-Konstanten L < 1 einer Stauchung entsprechen). Diese Beschreibung erklärt auch den alternativen Namen der Dehnungsbeschränktheit.
Obwohl die Form der Lipschitz-Stetigkeit viel einfacher ist als die ε-δ-Stetigkeit mit ihren zahlreichen Quantorenwechseln, bereitet dieser Begriff vielen Anfängern zunächst Schwierigkeiten, da sie sich unter der Lipschitz-Bedingung nicht viel vorstellen können. Eine Variation der Rechteckmethode, mit der wir die gleichmäßige Stetigkeit anschaulich machen konnten, ist geeignet, um sich mit der Bedingung anzufreunden. Sei hierzu p ∈ P. Ist f Lipschitz-stetig mit der Konstanten L, so gilt für alle x ≠ p:
| f (x) − f (p)x − p | ≤ L.
Die linke Seite kennen wir aus der Schule. Sie ist der Betrag des Differenzenquotienten von f für die Punkte x und p (in 7. 1 werden wir ihn genauer besprechen). Die Bedingung besagt also, dass für alle x ≠ p die Gerade, die die Punkte (p, f (p)) und (x, f (x)) verbindet, eine Steigung im Intervall [ − L, L ] besitzt. Damit gilt also die folgende anschauliche graphische Interpretation der Lipschitz-Stetigkeit mit der Konstanten L:
Sei p ∈ P beliebig, und seien g1 und g2 die beiden Geraden der Ebene durch den Punkt
(p, f (p)) mit der Steigung − L bzw. L. Dann liegt der gesamte Funktionsgraph
von f im durch die beiden Geraden eingeschlossenen waagrechten Bereich.
Genauer zerlegen die beiden Geraden für L > 0 die Ebene in vier Teile. Wir betrachten die beiden Teile, die die Waagrechte durch den Punkt (p, f (p)) enthalten. Ist L = 0, so ist diese Waagrechte identisch mit dem betrachteten Bereich. Allgemein gilt: Ist L sehr klein, so besitzt der betrachtete Bereich sehr spitze Winkel im Punkt (p, f (p)) und das Wachstum der Funktion ist dann sehr gering.
Wer es noch anschaulicher möchte, betrachte eine Taschenlampe mit dem Öffnungswinkel 2 arctan(L). Die Lipschitz-Stetigkeit zur Konstanten L bedeutet dann: Legen wir die Taschenlampe parallel zur x-Achse irgendwo auf den Funktionsgraphen, so liegt der gesamte Funktionsgraph im nach vorne oder nach hinten gerichteten Lichtkegel.
Diese Überlegungen zeigen, dass man im Unterschied zur gleichmäßigen Stetigkeit auch wieder eine punktweise Form der Lipschitz-Stetigkeit betrachten könnte. Wir beschränken uns hier auf die globale Version, bei der eine Konstante für jedes Punktepaar p und x geeignet ist.
Nachdem wir uns nun mit dem Konzept angefreundet haben, ordnen wir es in die anderen Stetigkeitsbegriffe ein. Die Lipschitz-Stetigkeit ist sehr stark:
Lipschitz-Stetigkeit impliziert gleichmäßige Stetigkeit, aber nicht umgekehrt.
Die gültige Implikation kann man sich durch einen Vergleich der beiden Visualisierungen vor Augen führen: Liegt der Graph punktweise im durch zwei Geraden der Steigung L bzw. −L eingeschlossenen Bereich, so erfüllt er auch die Rechtecksbedingung der gleichmäßigen Stetigkeit. Die andere Implikation gilt dagegen nicht:
Beispiel
Sei f : [ 0, 1 ] → ℝ definiert durch f (x) = für alle x. Dann ist f gleichmäßig stetig. Dies folgt aus dem allgemeinen Satz oder durch direkten Nachweis: Sei ε > 0 beliebig. Aufgrund der Stetigkeit von f im Punkt 0 gibt es ein δ mit | − | = < ε für alle s ∈ [ 0, δ ]. Dann ist δ aber auch für die gleichmäßige Stetigkeitsbedingung geeignet, denn für alle p ≤ x in [ 0, 1 ] mit x − p < δ gilt
|f (x) − f (p)| = − ≤ < ε,
wobei die erste Ungleichung durch Quadrieren aus p ≤ folgt. Die Funktion f ist aber nicht Lipschitz-stetig. Denn die Wurzelfunktion beginnt im Nullpunkt mit einer unendlichen Steigung, und diese Steigung macht die Lipschitz-Stetigkeit unmöglich, da wir die Steigung unserer den Graphen einschließenden Geraden im Nullpunkt ebenfalls unendlich groß wählen müssten.
Dennoch gilt, dass die Lipschitz-Stetigkeit häufiger anzutreffen ist, als man vielleicht vermuten würde. Kennt man etwas Differentialrechnung, so kann man zeigen, dass jede stetig differenzierbare Funktion f : [ a, b ] → ℝ Lipschitz-stetig ist (siehe 7. 7). Der Definitionsbereich hat hier die gute Form [ a, b ], f ist differenzierbar und die Ableitung f ′ ist stetig. Dies ist zum Beispiel für den Sinus auf [ 0, 2 π ] oder den Logarithmus auf [ 1, 2 ] der Fall. Die Lipschitz-Stetigkeit taucht in der Analysis als „gute Voraussetzung“ an wichtigen Stellen auf, etwa im Existenz- und Eindeutigkeitssatz der Theorie der Differentialgleichungen und im Banachschen Fixpunktsatz.