5.7 Stetige Fortsetzungen
Definition (stetig fortsetzbar, stetige Fortsetzung)
Seien f : P → ℝ stetig und sei A ⊆ ℝ eine Obermenge von P. Dann heißt f stetig fortsetzbar nach A, falls ein stetiges g : A → ℝ existiert mit f = g|P.
Jedes solche g heißt dann eine stetige Fortsetzung von f nach A.
g : [ a, b ] → ℝ stetig, g(p) = f (p) für alle p ∈ P
Graphisch lässt sich die Frage nach der Fortsetzbarkeit einer Funktion wie folgt beschreiben. Gegeben ist ein stetiges f : P → ℝ. Nun betrachten wir einen umfassenderen Definitionsbereich A. Die Frage lautet:
Können wir den Graphen von f so ergänzen, dass ein stetiger Funktionsgraph auf A entsteht?
Wir müssen hierzu im Allgemeinen einfache Definitionslücken schließen, Brücken zwischen Intervallgrenzen errichten, Funktionen, die auf Pulvermengen wie P = ℚ definiert sind, nach A = ℝ ausdehnen usw. Die Aufgabe ist vielgestaltig und komplex. Wir betrachten im Folgenden lediglich einige wichtige Spezialfälle.
Aus der Schule kennen wir das Phänomen der hebbaren und nichthebbaren Definitionslücken. Diese tauchen vor allem dann auf, wenn wir eine Funktion durch einen Term erklären und dann nicht durch 0 teilen dürfen.
Beispiele
(1) | Sei f : ℝ − { 0 } → ℝ definiert durch f (x) = 1/x für alle x ≠ 0 . Dann besitzt die Funktion keine stetige Fortsetzung nach ℝ. |
(2) | Sei f : ℝ − { 0 } → ℝ definiert durch f (x) = x sin(1/x) für alle x ≠ 0. Dann gilt limx → 0, x ≠ 0 f (x) = 0, da |f (x)| = |x sin(1/x)| ≤ |x| · 1 ≤ |x| für alle x ≠ 0. Die Funktion f besitzt also eine eindeutige stetige Fortsetzung g nach ℝ, die definiert ist durch |
Eine weitere wichtige Technik der stetigen Fortsetzung ist die lineare Interpolation. Wir illustrieren sie an einem typischen Beispiel.
Beispiel
Sei f : [ 0, 1 ] ∪ [ 8, 9 ] → ℝ eine stetige Funktion. Dann können wir f nach [ 0, 9 ] stetig fortsetzen, indem wir die Punkte (1, f (1)) und (8, f (8)) der Ebene durch ein Geradenstück miteinander verbinden. Die so entstehende stetige Fortsetzung g : [ 0, 9 ] → ℝ von f lässt sich wie folgt darstellen:
wobei a = (f (8) − f (1))/(8 − 1) die Steigung der Geraden durch (1, f (1)) und (8, f (8)) ist.
Wir betrachten nun das schwierigere Problem der Fortsetzung einer stetigen Funktion f : ℚ → ℝ nach ℝ. Eine einfache Überlegung zeigt, dass dies nicht für alle Funktionen möglich ist.
Beispiel
Die Funktion f : ℚ → ℝ mit f (x) = 0 für x < und f (x) = 1 für x > ist stetig.
Sie lässt sich aber nicht stetig nach ℝ fortsetzen, da
limx ↑ , x ∈ ℚ f (x) = 0 ≠ 1 = limx ↓ , x ∈ ℚ f (x).
Das Beispiel zeigt, dass wir Sprünge vermeiden müssen, wenn die stetige Fortsetzung gelingen soll. Für monotone Funktionen genügt dies:
Satz (Fortsetzungssatz für monotone Funktionen auf ℚ)
Sei f : ℚ → ℝ stetig und monoton steigend. Der Wertebereich von f habe keine Lücken der Form ] f (p), f (q) [, d. h. für alle p < q in ℚ gebe es ein r ∈ ℚ mit f (p) < f (r) < f (q). Dann lässt sich f in eindeutiger Weise stetig nach ℝ fortsetzen. Ein analoger Satz gilt für monoton fallende Funktionen.
Die eindeutige stetige Fortsetzung g : ℝ → ℝ von f ist gegeben durch
g(x) = limq ↑ x, q ∈ ℚ f (x) = sup({ f (q) | q ∈ ℚ, q < x }) für alle x ∈ ℝ.
Der Satz lässt sich zur Definition der Exponentiation für reelle Exponenten anwenden (vgl. 2.10). Sei hierzu a > 0, und sei f : ℚ → ℝ definiert durch
f (q) = aq = n für alle q = m/n, m ∈ ℤ, n ≥ 1.
Dann erfüllt f die Voraussetzungen des Satzes (mit „steigend“ für a ≥ 1 und „fallend“ für a < 1). Also existiert eine stetige Fortsetzung ga von f nach ℝ. Setzt man nun
ax = ga(x) für alle x ∈ ℝ und alle a > 0,
so ist die Exponentiation also für alle positiven Basen und alle reellen Exponenten erklärt. Die üblichen Rechenregeln gelten nach wie vor. Gleichwertig ist die Definition von ax über die Exponentialfunktion ex (vgl. 6. 5).