6.7 Die komplexe Exponentialfunktion
Definition (komplexe Exponentialfunktion)
Wir definieren die (komplexe) Exponentialfunktion exp : ℂ → ℂ durch
exp(z) = ∑n zn/n! für alle z ∈ ℂ. (Reihendefinition von exp)
Wir schreiben auch ez anstelle von exp(z).
Die Diagramme zeigen K = { z ∈ ℂ | |z| = 1 } und die Bildmengen fn[ Y ] für
Y = { i y | y ∈ [ − π, π ] } ], n = 1, …, 8, wobei fn : ℂ → ℂ, fn(z) = ∑1 ≤ k ≤ n zk/k !
Die komplexe Exponentialfunktion ist wie die reelle Exponentialfunktion definiert, und viele Resultate übertragen sich von ℝ nach ℂ: Die Exponentialfunktion ist stetig auf ℂ und das Cauchy-Produkt liefert das Additionstheorem:
ez + w = ez · ew für alle z, w ∈ ℂ.
Speziell gilt für alle x, y ∈ ℝ:
ex + iy = ex ei y für alle x, y ∈ ℝ.
Um die Abbildungseigenschaften der komplexen Exponentialfunktion zu verstehen, genügt es also, die Werte ex und ei y mit x, y ∈ ℝ zu untersuchen: Kennen wir die komplexe Exponentialfunktion auf der x- und der y-Achse, so kennen wir sie auf ganz ℂ. Das Verhalten auf der x-Achse ist uns gut bekannt, die komplexe Exponentialfunktion setzt ja die reelle Exponentialfunktion fort. Neuartig ist
ei y = ∑n in yn/ n! = 1 + i y − y2/2 − i y3/6 ± …
In ∑n yn/n ! ist hier die zyklische Folge 1, i, −1, −i, 1, i, −1, −i, … eingewebt. Alle Summanden von ei y befinden sich also auf dem Achsenkreuz der Ebene. Einen genaueren Einblick erlaubt uns aber erst die komplexe Konjugation. Für alle z ∈ ℂ gilt nämlich
exp(z) = ∑n zn/n ! = ∑n zn/n ! = ∑n zn/n ! = exp(z),
und damit gilt für alle y ∈ ℝ:
ei y · ei y = ei y · ei y = ei y · e−i y = e0 = 1.
Wegen z z = |z|2 ist also |ei y| = 1 für alle y ∈ ℝ. Die komplexe Exponentialfunktion bildet damit die y-Achse der Ebene stetig in den Einheitskreis K = { z ∈ ℂ | |z| = 1 } ab. Die erste Idee, die y-Achse stetig in K abzubilden, ist, sie aufzuwickeln. Man kann in der Tat zeigen, dass die komplexe Exponentialfunktion sich in dieser Weise verhält. Das genaue (wundervolle !) Ergebnis der Untersuchung lautet anschaulich formuliert:
Die komplexe Exponentialfunktion wickelt die y-Achse längentreu auf den Einheitskreis K auf. Es gilt e0 = (1, 0) ∈ K. Entlang der positiven y-Achse verläuft die Aufwicklung gegen den Uhrzeigersinn, entlang der negativen y-Achse verläuft sie im Uhrzeigersinn.
Die y-Achse wird bei der Kreisaufwicklung nicht gedehnt und nicht gestaucht. Das Geradenstück [ 0, 2 π [ × { i } wird, beginnend im Punkt (0, 1), gegen den Uhrzeigersinn zu K umgeformt. Ebenso wird Y = ] − π, π ] × { i } zu K umgeformt usw. Speziell erhalten wir:
Längentreue Kreisaufwicklung der y-Achse durch ez
Werte der Kreisaufwicklung
e0 = 1 = (1, 0),
ei π/4 = (1, 1)/ = (1 + i)/,
ei π/2 = i, und weiter:
Eulersche Identität
ei π + 1 = 0
Aus ei 2π = 1 und dem Additionstheorem ergibt sich weiter:
Periodizität der komplexen Exponentialfunktion
ez = ez + i 2 π = ez + k 2 π für alle z ∈ ℂ und alle k ∈ ℤ.
Wir haben in unserer Diskussion den Kreisumfang 2 π aus der Geometrie übernommen. Heute wird die Zahl π in der Analysis oft analytisch eingeführt: Man definiert 2 π als die Periode der komplexen Exponentialfunktion, d. h. als die kleinste positive reelle Zahl y mit ei y = 1. Dass 2 π dann tatsächlich der geometrische Umfang des Einheitskreises ist, folgt aus der Längentreue der Kreisaufwicklung. Wir diskutieren in der letzten Sektion dieses Kapitels, wie man diese Längentreue nachweisen kann.