7.6 Höhere Ableitungen
Definition (höhere Ableitungen, n-fache stetige Differenzierbarkeit, glatt)
Sei f : P → ℝ eine Funktion. Wir setzen f (0) = f und definieren rekursiv, solange die Ableitungen existieren,
f (n + 1) = f (n)′ für alle n.
Die Funktion f (n) heißt, im Fall der Existenz, die n-te Ableitung von f oder die Ableitung der Ordnung n von f. Wir schreiben auch
Dn f = dn f/d xn = (d/dx)n f = f (n).
Die Funktion f heißt
(a) | n-mal differenzierbar, falls f (n) existiert, |
(b) | n-mal stetig differenzierbar oder eine 𝒞n-Funktion, falls f (n) stetig ist, |
(c) | glatt oder eine 𝒞∞-Funktion, falls f (n) für alle n existiert. |
f (x) = x4 + sin(4x)
f ′(x) = 4 x3 + 4 cos(4x)
f ″(x) = 12 x2 − 16 sin(4x)
f ″′(x) = 24 x − 64 cos(4x)
Es gilt also
f = f (0), f ′ = f (1), (f ′)′ = f (2), …
Für n = 2 ist auch f ″ zur Bezeichnung von f (2) üblich. Die Funktion f (0) ist immer definiert und die Aussage, dass f eine 𝒞0-Funktion ist, besagt einfach, dass f stetig ist. Die Funktion f (1) ist definiert, falls f differenzierbar ist, und f ist 𝒞1, falls die Ableitung f (1) stetig ist. Existiert f (n + 1), so ist f eine 𝒞n-Funktion, da die Differenzierbarkeit von f (n) die Stetigkeit von f (n) impliziert. Wir betrachten einige Beispiele und ziehen dabei die Funktionen aus der letzten Sektion heran.
Beispiele
(1) | Die Betragsfunktion abs : ℝ → ℝ ist eine 𝒞0-Funktion, aber abs(1) existiert nicht. |
(2) | Für f : ℝ → ℝ mit f (x) = x2 sin(1/x) für x ≠ 0 und f (0) = 0 existiert die Ableitung f (1), aber f ist keine 𝒞1-Funktion. |
(3) | Die Funktion g : ℝ → ℝ mit g(x) = x2 für x < 0 und g(x) = x3 für x ≥ 0 ist 𝒞1, aber g(2) existiert nicht, da g′ einen Knick im Nullpunkt besitzt. |
(4) | Auch die Funktion h : [ 0, +∞ [ → ℝ mit h(x) = x3/2 für alle x ≥ 0 ist 𝒞1, aber h(2) existiert nicht, da h′(x) = 3/2 für alle x ≥ 0 und also h′ im Nullpunkt nicht differenzierbar ist. |
Allgemeiner kann man für jedes n Funktionen f und g konstruieren, sodass gilt:
(a) | f (n) existiert, aber f ist keine 𝒞n-Funktion. |
(b) | g ist eine 𝒞n-Funktion, aber g(n + 1) existiert nicht. |
Die erste und zweite Ableitung enthält viele Informationen über f. Wir werden sehen, dass wir mit ihrer Hilfe die lokalen Extremwerte und das Krümmungsverhalten von f untersuchen können (7. 8 − 7. 11). Die mehrfachen Ableitungen f (n) treten im Satz von Taylor und bei der Aufgabe, eine Funktion als Potenzreihe darzustellen, auf (7. 12).
Glatte Funktionen lassen sich beliebig oft differenzieren. Sie haben keine „unterdrückten Oszillationen“ wie die Funktion in Beispiel (2), die in einer Ableitung irgendwann als Unstetigkeit zweiter Art erscheinen würden. Sie haben keine „verborgenen Knicke“ wie die Funktion in Beispiel (3), die beim wiederholten Differenzieren sichtbar werden würden. Und ihre Ableitungen zeigen keine geometrischen Tangenten der Steigung +∞ wie die Funktion in Beispiel (4).
Beispiele
(1) | Jede Polynomfunktion f ist glatt. Wiederholtes Ableiten endet in der Nullfunktion. Ist f nicht die Nullfunktion (deren Grad gleich −∞ ist), so gilt: Grad(f) = „das kleinste n mit f (n + 1) = 0“. |
(2) | Für alle n ≥ 1 und alle 1 ≤ k ≤ n gilt (ddx)k xn = n (n − 1) … (n − k + 1) xn − k = n !(n − k) ! xn − k. Speziell ist also (d/dx)n xn = n !/0 ! x0 = n ! |
(3) | Die Exponentialfunktion ist glatt. Es gilt exp(n) = exp für alle n. |
(4) | Die Logarithmusfunktion log : ] 0, +∞ [ → ℝ ist glatt. Es gilt log(1)(x) = x− 1, log(2)(x) = − x− 2, log(3)(x) = 2 x− 3, log(4)(x) = − 6 x− 4, allgemein log(n)(x) = (− 1)n − 1 (n − 1) !xn für alle n ≥ 1 und x > 0. |
(5) | Der Sinus ist glatt. Es gilt sin(2n) = (−1)n sin, sin(2 n + 1) = (−1)n cos für alle n. Die Folge der Ableitungen ist periodisch. Analoges gilt für den Kosinus. |
(6) | Eine Potenzreihe f = ∑n an xn mit Konvergenzradius R ist eine glatte Funktion auf ] − R, R [. Für alle x ∈ ] − R, R [ und alle k ≥ 0 gilt: f (k)(x) = ∑n an (d/dx)k xn = ∑n ≥ k an n (n − 1) … (n − k + 1) xn − k. (gliedweises Differenzieren) |