8.11 Der Vertauschungssatz
Satz (Vertauschungssatz für das Riemann- oder Regelintegral)
Sei (fn)n ∈ ℕ eine Folge integrierbarer Funktionen auf [ a, b ], die punktweise gegen ein f : [ a, b ] → ℝ konvergiert. Dann gilt:
(a) | Ist (fn)n ∈ ℕ beschränkt (d. h. gibt es ein s ∈ [ 0, +∞ [ mit |fn(x)| ≤ s für alle n und alle x ∈ [ a, b ]) und f integrierbar, so gilt ∫baf = limn ∫bafn. (Vertauschungsregel für die Integration) |
(b) | Gilt limn fn = f (gleichmäßig), so ist (fn)n ∈ ℕ beschränkt und f integrierbar. Folglich gilt die Vertauschungsregel in (a). |
Der Satz ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich analytische Operationen unter „guten“ Bedingungen vertauschen lassen. Wir hatten schon die Limesstetigkeit
f(limn xn) = limn f (xn)
einer Funktion (vgl. 5. 1) und die gliedweise Differenzierbarkeit
(∑n an xn)′ = ∑n (an xn)′ = ∑n ≥ 1 n an xn − 1
einer in ] − r, r [ konvergenten Potenzreihe ∑n an xn kennengelernt (vgl. 6. 3, 7. 6). Nun gilt
∫balimn fn = limn ∫bafn, |
vorausgesetzt, die Folge ist beschränkt und die Grenzfunktion f = limn fn integrierbar. Beide Bedingungen gelten bei gleichmäßiger Konvergenz automatisch.
Legen wir das Riemann-Integral zugrunde und setzen wir statt des Integrals eine endliche Riemann-Summe mit einer Partition p = (tk, xk)k ≤ m in die Vertauschungsregel ein, so erhalten wir
∑p limn fn = limn ∑p fn, d. h.
∑k ≤ m limn fn (xk) (tk + 1 − tk) = limn ∑k ≤ m fn(xk) (tk + 1 − tk).
Der Satz besagt, dass sich diese endliche Summenregel in vielen Fällen auf das Integral überträgt. Analoges gilt für Treppenfunktionen und das Regelintegral.
Die Aussage (a) ist nicht einfach zu beweisen. Oft formuliert man den Satz deswegen nur für gleichmäßig konvergente Folgen, für die er einfach zu zeigen ist. Ein klareres Bild der Verhältnisse scheint aber die obige Formulierung zu liefern.
Beispiele
(1) | Sei f : [ −r, r ] → ℝ, f (x) = , die obere Hälfte des Einheitskreises. Weiter sei (fn)n ∈ ℕ eine beschränkte Folge integrierbarer Funktionen auf [ −r, r ], die punktweise gegen f konvergieren. Dann gilt r2 π/2 = ∫baf = limn ∫bafn. Alle approximativen Verfahren zur Berechnung der Kreisfläche liefern also das gleiche Ergebnis (vgl. 8. 9). limn fn = 0 (punktweise), ∫10fn = 1 für alle n |
(2) | Für alle n sei fn : [ 0, 1 ] → [ 0, +∞ [ die stetige Zackenfunktion mit Zackenspitzen bei (1/2n + 1, 2n + 1) und Zackenbreiten 2− n, d. h., fn(x) = 22 n + 2 x in [ 0, 1/2n + 1 ], fn(x) = 2n + 2 − 22 n + 2 x in ] 1/2n + 1, 1/2n ], fn(x) = 0 in ] 1/2n, 1 ]. Dann schließt jedes fn die Fläche 1 mit der x-Achse ein, und (fn)n ∈ ℕ konvergiert punktweise gegen die Nullfunktion. Also ist ∫balimn fn = ∫ba0 = 0 ≠ 1 = limn 1 = limn ∫bafn. Auf die Beschränktheit der Folge kann also nicht verzichtet werden. |
(3) | Seien fn : [ 0, +∞ [ → [ 0, 1 ], n ≥ 1, Zackenfunktionen mit Zackenspitzen bei (n/2, 1/n) und Zackenbreiten n. Dann gilt limn fn = 0 (gleichmäßig), aber das uneigentliche Integral von fn ist gleich 1 für alle n. Die Vertauschungsregel gilt also nicht mehr für alle uneigentlichen Integrale. |
(4) | Sei (qn)n ∈ ℕ eine Aufzählung aller rationalen Zahlen in [ 0, 1 ] (ohne Wiederholungen). Für alle n sei fn : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ] definiert durch fn(qk) = 1 für alle k ≤ n, fn(x) = 0 für alle x ∈ [ 0, 1 ] − { q0, …, qn }. Dann sind alle fn integrierbar mit Integral 0, da fn nur an endlich vielen Stellen von 0 verschieden ist. Die Folge (fn)n ∈ ℕ konvergiert punktweise monoton steigend gegen die Dirichletsche Sprungfunktion auf [ 0, 1 ]. Die Integrierbarkeit der Grenzfunktion kann also bei punktweiser Konvergenz verloren gehen. |
Situationen wie in Beispiel (2) sind unvermeidlich, aber der mögliche Verlust der Integrierbarkeit bei punktweiser beschränkter Konvergenz wie in Beispiel (4) ist eine Schwäche des Regel- und des Riemann-Integrals. In der höheren Analysis arbeitet man mit dem Lebesgue-Integral, das diese Schwäche nicht besitzt. Es setzt das Riemann-Integral echt fort. Die Dirichletsche Sprungfunktion ist Lebesgue-integrierbar mit Integral 0. Veränderungen an abzählbar vielen Stellen stören dieses Integral nicht.