8.12 Integral und Flächeninhalt
Definition (Jordan-Inhalt)
(a) | Ein Q ⊆ ℝ2 heißt ein δ-Quadrat, falls es δ > 0 und es a, b ∈ ℤ gibt mit Q = [ a δ, (a + 1)δ ] × [ b δ, (b + 1)δ ]. |
(b) | Sei P ⊆ ℝ2 beschränkt, d. h., es gebe ein n mit P ⊆ [ − n, n ]2. Dann heißen J(P) = infδ > 0 δ2 · „die Anzahl der δ-Quadrate Q mit Q ∩ P ≠ ∅“, j(P) = supδ > 0 δ2 · „die Anzahl der δ-Quadrate Q mit Q ⊆ P“ der äußere bzw. innere Jordan-Inhalt von P. |
(c) | Gilt J(P) = j(P), so heißt P Jordan-messbar und J(P) der Jordan-Inhalt von P. |
Das linke δ-Quadrat trägt zu J(P) bei, das rechte zu j(P) und J(P).
Die auf den ersten Blick vielleicht etwas technische Definition beruht auf der einfachen und anschaulichen Methode des Kästchenzählens, die wir von der Schule kennen. Ist eine Figur auf einem Millimeterpapier gegeben, so können wir den Flächeninhalt der Figur nach oben abschätzen, indem wir die Anzahl der Kästchen bestimmen, die mit der Figur mindestens einen Punkt gemeinsam haben. Analog können wir den Flächeninhalt der Figur nach unten abschätzen, indem wir die Anzahl der Kästchen bestimmen, die ganz innerhalb der Figur liegen. Wenn wir nun abstrahieren und beliebige kleine positive reelle Zahlen δ als Rastermaß und beliebige beschränkte Teilmengen P der Ebene als Figuren betrachten, so gelangen wir zur obigen Begriffsbildung.
Man darf vermuten, dass zwischen Inhalt und Integral ein enger Zusammenhang besteht. Das Integral haben wir ja bereits als eine „signierte Flächenmessung“ bezeichnet. Aber es gibt doch Unterschiede. Im Integral arbeiten wir mit Rechtecksflächen und nicht mit den Quadraten eines Gitters. Weiter tragen negative Bereiche negativ zum Integral bei, während beim Jordan-Inhalt alles positiv zählt. Der dritte und bedeutsamste Unterschied ist, dass der Jordan-Inhalt auch für Mengen P erklärt ist, die nicht zwischen einer Funktion und der x-Achse liegen, etwa für Kreise, Ellipsen, Kleeblätter, teichförmige Bereiche usw. Trotz dieser Unterschiede stellt sich heraus, dass Riemann-Integral und Jordan-Inhalt (und nicht etwa Regelintegral und Jordan-Inhalt !) gleichwertig sind. Die erste Erkenntnis hierzu ist:
Riemann-Integral für nichtnegative Funktionen und Jordan-Inhalt
Sei f : [ a, b ] → [ 0, +∞ [ eine beschränkte Funktion, und sei
Pf = { (x, y) ∈ ℝ2 | x ∈ [ a, b ], y ∈ [ 0, f (x) ] }
die von f und der x-Achse eingeschlossene Fläche. Dann ist f genau dann Riemann-integrierbar, wenn Pf Jordan-messbar ist. In diesem Fall gilt
∫baf = J(Pf).
Damit ist der „geometrische Gehalt“ des Riemann-Integrals präzisiert: Das Riemann-Integral einer nichtnegativen Funktion ist nicht weniger und nicht mehr als der mit der Kästchenmethode berechnete Inhalt der von f definierten Fläche Pf. Prinzipiell könnte die Kästchenmethode ja auch dem engeren Regelintegral entsprechen oder sogar über das Riemann-Integral hinausgehen. Dies ist aber nicht der Fall.
Wie sieht es nun mit Funktionen aus, die negative Werte annehmen können? Der Jordan-Inhalt kann hier leicht mithalten, denn es gilt
∫baf = ∫baf + − ∫baf − = J(Pf +) − J(Pf −) |
mit dem Positivteil f + und dem Negativteil f − von f (vgl. 8. 6). Damit haben wir:
Der Jordan-Inhalt kann alles, was das Riemann-Integral kann.
Wie sieht es mit der Umkehrung aus? Kann man mit dem Jordan-Inhalt etwas messen, was man mit dem Riemann-Integral nicht messen kann? Die Antwort ist ja, und sie beruht auf dem dritten oben genannten Unterschied. Mit dem Riemann-Integral kann man zwar noch relativ bequem die Fläche eines Kreises mit Radius r berechnen, indem man die Fläche der oberen Hälfte des Kreises berechnet,
∫r−r dx = r2 π/2 (vgl. 8. 9)
und das Ergebnis verdoppelt. Aber die Berechnung von komplizierteren Flächen, die nicht durch Funktionen definiert werden, ist schwer bis unmöglich. Damit hat der Jordan-Inhalt zunächst einen theoretischen Vorsprung. Sobald man aber das Riemann-Integral auf die Dimension 2 erweitert hat, kann man diesen Vorsprung wettmachen. Ist nämlich P ⊆ [ − n, n ]2 eine Jordan-messbare Menge, so ist die Funktion 1P : [ − n, n ]2 → ℝ mit 1P(x) = 1 für x ∈ P und 1P(x) = 0 für x ∉ P Riemann-integrierbar und das Riemann-Integral von 1P ist gleich J(P). Damit gilt:
Das zweidimensionale Riemann-Integral kann alles, was der Jordan-Inhalt kann.
Auch den Jordan-Inhalt kann man zu einem dreidimensionalen Jordan-Volumen erweitern. Das Jordan-Volumen kann dann wieder alles, was das zweidimensionale Riemann-Integral kann. Dies setzt sich fort und damit sind, im Hinblick auf höhere Dimensionen, das Riemann-Integral und der Jordan-Inhalt vollkommen äquivalent. Einen eleganten und effektiven Rechenkalkül besitzt nur das Integral.