8.6 Zum Umfang der integrierbaren Funktionen
Satz (Umfang des Riemann- bzw. des Regelintegrals)
Sei [ a, b ] ein Intervall. Dann gilt (für das Riemann- oder das Regelintegral):
Integrierbarkeit stückweise stetiger Funktionen
Jede stückweise stetige Funktion f : [ a, b ] → ℝ ist integrierbar, wobei f stückweise stetig heißt, wenn es eine Partition p = (tk)k ≤ n von [ a, b ] gibt, sodass für alle k ≤ n gilt:
f|] tk, tk + 1 [ ist stetig und limx ↓ tk f (x), limx ↑ tk + 1 f (x) existieren.
Integrierbarkeit monotoner Funktionen
Jede monotone Funktion f : [ a, b ] → ℝ ist integrierbar.
Abgeschlossenheitseigenschaften
Sind f, g : [ a, b ] → ℝ integrierbar, so auch f + g, c f, f g und |f|.
Kompositionssatz
Ist f : [ a, b ] → [ c, d ] integrierbar und ist g : [ c, d ] → ℝ stetig, so ist g ∘ f : [ a, b ] → ℝ integrierbar.
Abänderung an endlich vielen Stellen
Integrierbarkeit und Integral einer Funktion ändern sich nicht, wenn die Funktion an endlich vielen Stellen abgeändert wird.
Die gleichmäßige Stetigkeit einer stetigen Funktion f : [ a, b ] → ℝ liefert für alle ε > 0 eine äquidistante Partition von [ a, b ] und Treppenfunktionen g1 und g2, die f von oben und unten approximieren (vgl. 5. 5). Der Inhalt 2 ε (b − a) der Fläche zwischen g1 und g2 wird beliebig klein. Dies zeigt die Integrierbarkeit stetiger Funktionen.
Die stückweise stetigen und die monotonen Funktionen sind integrierbar und decken einen weiten Bereich ab. Jede stetige Funktion ist stückweise stetig. Wir halten aber fest, dass die stückweise Stetigkeit stärker ist als die Bedingung, dass f nur endlich viele Unstetigkeitsstellen besitzt. Die Funktion f : [ −1, 1 ] → ℝ mit f (x) = 1/x für alle x ≠ 0 und f (0) = 0 hat nur eine Unstetigkeitsstelle, aber sie ist nicht stückweise stetig und als unbeschränkte Funktion auch nicht integrierbar.
Die Abgeschlossenheitseigenschaften des Satzes lassen sich durch Kombination noch vielfach erweitern. So sind zum Beispiel für eine integrierbare Funktion f auch
f 2 = f · f, f 3 = f 2 · f, …, f n + 1 = f n · f, …
integrierbar. Ein weiteres Beispiel stellt die Zerlegung von einer Funktion in ihren Negativ- und Positivteil dar, die in der Integrationstheorie eine wichtige Rolle spielt (vgl. 8. 12):
Beispiel
Für ein f : [ a, b ] → ℝ definieren wir den Positivteil f + : [ a, b ] → ℝ und den Negativteil f − : [ a, b ] → ℝ durch:
f +(x) = max(f (x), 0) ≥ 0, f −(x) = max(− f (x), 0) ≥ 0
für alle x ∈ [ a, b ]. Dann gilt:
f = f + − f −, |f| = f + + f −, f + = (|f| + f)/2, f − = (|f| − f)/2.
Nach den Abgeschlossenheitseigenschaften ist also f genau dann integrierbar, wenn f + und f − integrierbar sind. Nach Linearität des Integrals gilt dann
∫baf = ∫baf + − ∫baf −. (Zerlegung in Positiv- und Negativteil) |
Wir vervollständigen unser Bild von der Menge der integrierbaren Funktionen nun noch durch einige Gegenbeispiele.
Beispiele
(1) | Jede unbeschränkte Funktion f : [ 0, 1 ] → ℝ ist nicht integrierbar. |
(2) | Sei f : [ 0, 1 ] → ℝ die Dirichletsche Sprungfunktion auf [ 0, 1 ]. Dann ist f nicht integrierbar. Denn in jedem Intervall [ pk, pk + 1 ] mit pk < pk + 1 einer Partition nimmt f die Werte 0 und 1 an. Also ist f keine Regelfunktion und weiter auch nicht Riemann-integrierbar, da Sap f = ∑k ≤ n (tk + 1 − tk) · supx ∈ [ tk, tk + 1 ] f (x) = ∑k ≤ n (tk + 1 − tk) 1 = 1, sp f = ∑k ≤ n (tk + 1 − tk) · infx ∈ [ tk, tk + 1 ] f (x) = ∑k ≤ n (tk + 1 − tk) 0 = 0. |
(3) | Das Beispiel (2) zeigt auch, dass wir die Integrierbarkeit einer Funktion f durch Abänderung an abzählbar unendlich vielen Stellen zerstören können. Denn f ist eine Abänderung der Nullfunktion auf [ 0, 1 ] an den abzählbar vielen rationalen Punkten in [ 0, 1 ]. |
(4) | Sei (qn)n ∈ ℕ eine Aufzählung aller rationalen Zahlen in [ 0, 1 ] ohne Wiederholungen. Wir definieren f, g : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ] durch f (qn) = 1/2n für alle n, f (x) = 0 für alle irrationalen x, g(x) = 1 für alle x > 0, g(0) = 0. Dann sind f und g integrierbar, aber g ∘ f ist die nichtintegrierbare Dirichletsche Sprungfunktion aus (2). Im Kompositionssatz kann die Stetigkeit von g also nicht durch die Integrierbarkeit ersetzt werden. (Zum Beweis der Integrierbarkeit von f nutzt man, dass es für alle ε > 0 nur endlich viele Stellen gibt, an denen f größergleich ε ist.) |