Zum Studium der Mathematik
Vorbemerkung
Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch eines allgemeinen Rezepts für einen erfolgreichen Start ins Mathematikstudium. Sie beruhen auf Lehrerfahrungen und persönlichen Einstellungen und wollen die fachliche Hilfestellung, die dieses Buch anstrebt, durch Hinweise zum Studium ergänzen.
Kennzeichen der Wissenschaft Mathematik …
… ist der Beweis. Ein wissenschaftliches Studium der Mathematik spiegelt dieses Kennzeichen wider. Beweise werden oft mit Hilfe von Anschauungen gefunden und verstanden, aber nicht anschaulich geführt und notiert. Sie beruhen auf exakten Begriffsbildungen in Form von fachsprachlichen Definitionen. Das alles muss man mögen und noch besser lieben, wenn man Mathematik studieren möchte.
Vorbereitung und Studienbeginn
Viele Universitäten bieten mathematische Brückenkurse an. Man lernt dort das vergleichsweise hohe Tempo kennen, sammelt nützliches Wissen und kommt in Kontakt mit Dozenten und Tutoren, die über das Studium an der Universität informieren. Der Besuch eines solchen Kurses ist unbedingt zu empfehlen. Daneben bietet der Buchmarkt Texte für den Übergang zur Universität an. Wer an einem Brückenkurs nicht teilnehmen kann, möge den entsprechenden Dozenten per E-Mail um Lernmaterial oder Buchempfehlungen bitten.
Das Studium beginnt mit Einführungstagen, Gruppeneinteilung und ersten sozialen Kontakten. Danach bestimmen die mathematischen Grundvorlesungen und die wöchentlichen Übungsaufgaben den Studienalltag. Während jede einzelne Vorlesung überschaubar ist, häuft sich innerhalb von wenigen Wochen eine beachtliche Stoffmenge an. Wo man vielleicht Beispiele und Rechnungen erwarten würde, kommen sofort wieder neue Begriffe und Beweise. Viele der Übungsaufgaben beginnen mit „Zeigen Sie …“ und man muss rasch lernen, damit umzugehen. Hierfür gibt es Tutorien, Kommilitonen, Skripte, Bücher − und den eigenen Kopf. Die beste Vorbereitung auf dieses „Zeigen Sie …“ ist die Nachbereitung des Skripts in einer ruhigen Arbeitsatmosphäre. Die Beweise des Skripts sind in vielen Fällen Beispiel und Vorbild für die Beweise der Übungsaufgaben. Nachahmung ist erwünscht, auch stilistisch. Die angefertigten Lösungen der Übungsaufgaben sollen in der Sprache und Genauigkeit formuliert werden, die in der Vorlesung verwendet wird. Nach dem Finden der Lösung auf einem Schmierzettel steht noch das lesbare und strukturierende Aufschreiben bevor.
Um den Überblick zu behalten, kann man sich angewöhnen, jede Vorlesung in eigenen Worten zusammenzufassen: Was haben wir gemacht? Was war besonders wichtig? Ein Beispiel wäre: „Wir haben punktweise konvergente Funktionenfolgen betrachtet. Ein Beispiel zeigte, dass die Grenzfunktion einer punktweise konvergenten Folge stetiger Funktionen nicht mehr stetig sein muss. Daraufhin haben wir die punktweise Konvergenz zur gleichmäßigen Konvergenz verstärkt (Anschauung: ε-Schlauch). Nun konnten wir zeigen, dass die Stetigkeit erhalten bleibt (Stichwort: ε/3-Argument).“
Lernverhalten
Ein punktweises und prüfungsadaptives Lernen, bei dem das Vergessen beim Antworten beginnt, funktioniert an der Universität nicht. Die Modulprüfungen, bei denen man auf sich allein gestellt ist, finden am Ende des Semesters statt, die wöchentlichen Übungsaufgaben kann man in Gruppen bearbeiten. Kontinuierliches und effizientes Arbeiten ist gefragt. Die Lernkurve ist entscheidend, nicht die kurzzeitige Leistungsspitze. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man kurz vor der Klausur daran zieht. Sinnvoll ist es dagegen, die Graspflege − das eigene Lernverhalten − von Beginn an zu überprüfen und anzupassen. Befragungen zeigen, dass sehr viel Zeit in Vorlesungen und in Zusatzangeboten verbracht wird, während die Lernzeit „im stillen Kämmerlein“ sehr gering ausfällt. Und wöchentlich zehn Stunden für vier Übungsaufgaben und nur eine halbe Stunde für das Studieren von Skript und Lehrbüchern zu verwenden, ist in der Regel keine gute Zeiteinteilung.
Anschauung und Fachsprache
Um ein freudvolles Dasein als Mathematiker führen zu können, muss man eine zweifache Übersetzungs- oder Transformationsfertigkeit erwerben und einüben. Zum einen muss man abstrakte und in einer formalen Sprache formulierte Begriffe und Ergebnisse mit Anschauungen füllen können. Sonst bleiben sie formal und leblos. Zum anderen muss man eigene individuelle Anschauungen in die formale Sprache übersetzen können. Sonst bleibt der mathematische Gehalt der Anschauungen unscharf und die Kommunikation mit anderen Mathematikern wird behindert. Beide Fertigkeiten kann man trainieren, die erste durch Diagramme, Beispiele und ein Sprechen über Mathematik, die zweite durch das genaue Wiedergeben von Definitionen und Sätzen und durch eine Verschriftlichung von Mathematik, die stilistische Aspekte und Details der Notation beachtet. Vorlesungen und systematische Lehrbücher, die eine mathematische Theorie umfassend vorstellen wollen, sind nicht der Ort, jeden Begriff anschaulich zu erklären. Das geschieht letztendlich im eigenen Kopf. Je kreativer und individueller, desto besser.
Viele mathematische Begriffe können von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden und zu einem Begriff können verschiedene kontextabhängige Auffassungen und Anschauungen nebeneinander existieren, die sich überschneiden können. Ein Beispiel hierfür ist die Ableitung einer Funktion f in einem Punkt. Man kann sie als Zahl sehen, mit der gerechnet werden kann, und die mit anderen Ableitungszahlen eine Funktion f ′ bildet. Man kann aber auch die Tangente an f im betrachteten Punkt in den Vordergrund rücken, die die Funktion in diesem Punkt linearisiert, und dann die Abweichung von f und dieser Tangente studieren. Ebenso können Matrizen sowohl mit linearen Gleichungssystemen assoziiert werden als auch mit linearen Abbildungen, mit algebraischen Ringen, mit Graphen und kombinatorischen oder stochastischen Fragestellungen.
Prüfungsvorbereitung
Zur Vorbereitung auf eine Klausur kann man − aufbauend auf kontinuierliche Arbeit während der Vorlesungszeit − wie folgt vorgehen:
(a) | Man wiederholt den gesamten Stoff der Vorlesung, wobei man sich auf die wesentlichen Themen konzentriert. Eine Bewertung in „sehr wichtig, wichtig, weniger wichtig“ vorzunehmen ist nicht leicht und in gewisser Weise bereits Teil der Prüfungsleistung. Dieses Buch möchte eine Hilfe hierzu sein. |
(b) | Viele Klausuraufgaben sind modifizierte Übungsaufgaben. Es empfiehlt sich, alle Übungen noch einmal genau durchzugehen. |
(c) | Von Kommilitonen, dem Tutor oder der Fachschaft kann man Klausuren vergangener Semester erhalten. Manchmal werden „reale Klausuraufgaben“ auch in den Tutorien diskutiert. |
(d) | Oft darf man keine Hilfsmittel zur Klausur mitnehmen, zuweilen ist eine Seite mit Definitionen und Formeln erlaubt. Die Aufgaben bei der ersten Variante sind in der Regel etwas einfacher, und hier können auch Definitionen und Sätze abgefragt werden. Bei der zweiten Variante wird in der Regel die Anwendung von Begriffen und Ergebnissen etwas stärker betont. |
In mündlichen Prüfungen sind eine Sicherheit in den Grundbegriffen sowie ein Überblick über den Verlauf und Aufbau der Vorlesung besonders wichtig. Das Durcharbeiten der Übungsaufgaben ist weniger bedeutsam, das Lernen mit Skript und Büchern dagegen sehr. Mündliche Prüfungen beginnen oft mit einer Definitionsfrage, an die sich Verständnis- und Einordnungsfragen anschließen. (Auch die Eingangsfrage „Worüber wollen Sie reden?“ kommt vor.) Beweise muss man nicht auswendig lernen, Beweisideen zu zentralen Sätzen sollte man aber angeben und diskutieren können.