6.10 Der Rieszsche Darstellungssatz
Satz (Rieszscher Darstellungssatz)
f(x, y) = −6x − 8y5
w = (−6/5, −8/5), ∥ w ∥ = 2
Sei V ein endlich-dimensionaler euklidischer oder unitärer Vektorraum, und sei f ∈ V*. Dann gibt es ein eindeutiges w ∈ V mit f = 〈 w, · 〉, d. h.
f (v) = 〈 w, v 〉 für alle v ∈ V.
Für alle w ∈ V ist 〈 w, · 〉 ∈ V*. Der Satz besagt, dass umgekehrt jedes f ∈ V* von der eindeutigen Form 〈 w, · 〉 ist, falls V endlich-dimensional ist. Wir nennen w den darstellenden oder Riesz-Vektor von f.
Konstruktion des darstellenden Vektors
Wir nehmen K = ℂ an und betrachten eine Orthonormalbasis (v1, …, vn) von V und die Dualbasis (v*1, …, v*n) von V*. Dann gibt es eindeutige α1, …, αn ∈ ℂ mit
f = α1 v*1 + … + αn v*n.
Es gilt (α1, …, αn) = Φ(v*1, …, v*n)(f) mit der Koordinatenabbildung Φ(v*1, …, v*n) : V* → ℂn.
Weiter ist α1 = f (v1), …, αn = f (vn), sodass die αi durch Auswerten von f auf den Basisvektoren berechnet werden können. Für alle v = λ1 v1 + … + λn vn ∈ V gilt
f (v) = f (λ1 v1 + … + λn vn) = (α1 v*1 + … + αn v*n)(λ1 v1 + … + λn vn) =
α1 λ1 + … + αn λn = 〈 α1 v1 + … + αn vn, v 〉,
wobei wir im letzten Schritt die Orthonormalität der Basis verwenden. Damit ist
w = α1 v1 + … + αn vn. (Identifikation des darstellenden Vektors)
Zur Eindeutigkeit beobachten wir, dass für alle w ≠ u die Abbildungen 〈 w, · 〉 und 〈 u, · 〉 verschieden sind. Denn ist 〈 w, · 〉 = 〈 u, · 〉, so ist 〈 w − u, · 〉 die Nullabbildung, sodass insbesondere 〈 w − u, w − u 〉 = 0 und damit w = u nach positiver Definitheit. Für K = ℝ bleibt die Argumentation gleich, wobei die Konjugationen wegfallen.
Beispiele
(1) | Sei V = ℝn mit dem kanonischen Skalarprodukt und der Standardbasis (e1, …, en), und sei f : ℝn → ℝ linear. Dann gilt für alle v = (λ1, …, λn) ∈ ℝn: f (v) = f (λ1 e1 + … + λn en) = λ1 f (e1) + … + λn f (en) = f (e1) λ1 + … + f (en) λn = 〈 (f (e1), …, f (en)), v 〉, sodass w = (f (e1), …, f (en)) ∈ ℝn der darstellende Vektor von f ist. |
(2) | Für den ℝ2 mit dem kanonischen Skalarprodukt ist ein lineares f : ℝ2 → ℝ eine Ebene durch den Nullpunkt. Der Riesz-Vektor w ∈ ℝ2 ist w = (f (1, 0), f (0, 1)). Dieser Vektor steht senkrecht auf Kern(f) (dem Schnitt von f mit der x-y-Ebene) und zeigt in die Richtung des stärksten Anstiegs der Ebene. In der Sprache der Analysis ist w der Gradient von f im Punkt 0. Obiges Diagramm visualisiert die Situation für ein konkretes f. |
Der Rieszsche Darstellungssatz ist für unendlich-dimensionale Vektorräume nicht mehr ohne zusätzliche Voraussetzungen gültig:
Beispiel
Sei V der ℝ-Vektorraum der reellen Polynomfunktionen auf ℝ mit
〈 f, g 〉 = ∫1−1 f (x) g(x) dx für alle f, g ∈ V.
Wir betrachten das lineare Funktional F : V → ℝ mit
F(f) = f (0) für alle f ∈ V. (Auswertung am Nullpunkt)
Annahme, es gibt ein g ∈ V mit F(f) = 〈 g, f 〉 für alle f ∈ V. Dann gilt 〈 g, x2 g 〉 = 0, da das Polynom x2 g im Nullpunkt gleich 0 ist. Damit ist aber
∫1−1 x2 g(x)2 dx = 〈 g, x2 g 〉 = 0.
Dies ist nur möglich, wenn g = 0. Dann ist aber F = 〈 g, · 〉 = 0, Widerspruch.
Exkurs I: Der Darstellungssatz für stetige Funktionale auf Hilbert-Räumen
Ist ein euklidischer oder unitärer Vektorraum V bzgl. der durch das Skalarprodukt induzierten Norm vollständig (im Sinne der Konvergenz von Cauchy-Folgen in V), so nennt man V einen Hilbert-Raum. So ist beispielsweise der ℓ2(ℂ) ein Hilbert-Raum. Der Rieszsche Darstellungssatz gilt nun für Hilbert-Räume, wenn man sich auf stetige Funktionale f : V → K beschränkt. Jedes stetige Funktional hat also die eindeutige Form 〈 w, · 〉 und umgekehrt sind alle 〈 w, · 〉 stetige Funktionale.
Exkurs II: Bra-Vektoren und Ket-Vektoren (Dirac-Notation)
In der mathematischen Physik schreibt man die lineare Abbildung 〈 w, · 〉 : V → ℂ oft als Bra-Vektor in der Form 〈 w|. Weiter schreibt man v ∈ V als Ket-Vektor in der Form |v 〉. Die Sprechweisen sind durch Bra-Ket ∼ bracket motiviert: Ein Bra-Vektor lässt sich auf einen Ket-Vektor anwenden: 〈 w | | v 〉 = 〈 w | v 〉 = 〈 w, v 〉. Ist nun (vi)i ∈ I eine Orthonormalbasis von V, so gilt für alle v = ∑i αi vi, w = ∑i βi vi ∈ V
∑i ∈ I 〈 w | vi 〉 〈 vi | v 〉 = ∑i ∈ I βi αi = 〈 w | v 〉.
Damit lässt sich ∑i ∈ I |vi 〉 〈 vi| als Identität interpretieren. Insgesamt entsteht ein suggestiver Kalkül, der insbesondere in der Quantenmechanik verwendet wird.