6. Die Axiome der Mengenlehre
Die gesamte Mathematik lässt sich aus dem Mengenbegriff entwickeln. Zahlen, Relationen, Funktionen, algebraische Strukturen usw. lassen sich als Mengen einführen. Neben der Gleichheit = wird dabei nur die Elementbeziehung ∈ verwendet. Die Eigenschaften von ∈ werden durch Axiome beschrieben, auf die sich ein Mathematiker bewusst oder unbewusst stützt. Wir stellen die weit verbreitete Zermelo-Fraenkel-Axiomatik ZFC kurz vor (Z = Ernst Zermelo, F = Abraham Fraenkel, C = „axiom of choice“ = Auswahlaxiom). Dieses System besteht aus den folgenden Axiomen:
I. Extensionalitätsaxiom
Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente besitzen.
Eine Menge ist also durch ihre Elemente vollständig bestimmt.
II. Existenz der leeren Menge
Es gibt eine Menge, die kein Element enthält.
Die leere Menge wird mit ∅ oder { } bezeichnet.
III. Paarmengenaxiom
Zu je zwei Mengen a, b existiert eine Menge c, die genau a und b als Elemente hat.
Wir schreiben c = { a, b }. Mit Hilfe des Axioms können wir (a, b) = { { a }, { a, b } } setzen und damit Relationen und Funktionen einführen (dabei ist { a } = { a, a }).
Hier und im Folgenden verwenden wir kleine Buchstaben a, b, c, … für Mengen. Da jedes Objekt der Theorie eine Menge ist, ist jedes Objekt auch eine Menge von Mengen, sodass die Unterscheidung zwischen Punkt/Zahl, Menge, Mengensystem in der axiomatischen Mengenlehre streng genommen bedeutungslos ist. Natürlich werden Mengen in konkreten Kontexten suggestiv mit M, 𝒜 usw. bezeichnet.
IV. Aussonderungsschema
Zu jeder Eigenschaft ℰ und jeder Menge a gibt es eine Menge b, die genau die Elemente c von a enthält, auf die ℰ zutrifft.
Wir schreiben b = { c ∈ a | ℰ(c) }. Für alle d gilt d ∈ b genau dann, wenn d ∈ a und ℰ(d). Da jeder Eigenschaft ein Axiom entspricht, spricht man von einem Axiomschema. Das System ZFC umfasst damit unendlich viele Axiome. Das Aussonderungsschema ist ein Ersatz für das inkonsistente Komprehensionsschema, das die Bildung von
{ c | ℰ(c) } (unbeschränkte Komprehension)
und damit die Russell-Zermelo-Komprehension { c | c ∉ c } erlaubt. Aussonderung genügt in vielen Fällen, da zumeist ein „großer Bereich“ wie ℕ, ℝ, ℝ2 usw. untersucht wird, für dessen Teilmengen man sich interessiert. Das Aussonderungsschema wird nun durch weitere Axiome ergänzt, die die Bildung dieser „großen Bereiche“ ermöglichen.
V. Vereinigungsmengenaxiom
Zu jeder Menge a existiert eine Menge b, deren Elemente genau die Elemente der Elemente von a sind.
Wir schreiben b = ⋃ a und setzen a ∪ b = ⋃ { a, b }.
VI. Unendlichkeitsaxiom
Es existiert eine Menge a, die die leere Menge als Element enthält, und die mit jedem ihrer Elemente b auch b ∪ { b } als Element enthält.
Man setzt 0 = ∅, 1 = { 0 }, 2 = 1 ∪ { 1 }, …, n + 1 = n ∪ { n }, … Aus dem Axiom folgt, dass ℕ = { 0, 1, 2, … } existiert. Genauer nennt man eine Menge a wie im Unendlichkeitsaxiom induktiv und definiert ℕ als den Durchschnitt aller induktiven Mengen. Man kann zeigen, dass (ℕ, S, 0) mit S(n) = n ∪ { n } für alle n ∈ ℕ die Dedekind-Peano-Axiome erfüllt.
VII. Potenzmengenaxiom
Zu jeder Menge a existiert die Menge b aller Teilmengen von a.
Wir schreiben b = ℘(a). Das Axiom führt zu überabzählbaren Mengen. Aus ℘(ℕ) gewinnt man die reellen Zahlen ℝ und aus ℘(ℝ) die Menge aller Funktionen von ℝ nach ℝ.
VIII. Ersetzungsschema
Sei ℰ(a, b) eine Eigenschaft derart, dass für jede Menge a genau eine Menge b existiert mit ℰ(a, b). Dann existiert für jede Menge c die Menge, die entsteht, wenn jedes Element a von c durch das eindeutige b mit ℰ(a, b) ersetzt wird.
Das Schema erlaubt die Definition von Funktionen f auf einer Menge c der Form
f (a) = „das eindeutige b mit ℰ(a, b)“ für alle a ∈ c
(vgl. 1. 5). Oft genügt das Aussonderungsschema: Weiß man, dass alle (a, b) mit ℰ(a, b) einer Menge d angehören, so ist f = { (a, b) ∈ d | ℰ(a, b) }. Das Ersetzungsschema erweist sich aber als eine echte Verstärkung des Aussonderungsschemas.
IX. Fundierungsaxiom oder Regularitätsaxiom
Jede nichtleere Menge a besitzt ein Element b mit a ∩ b = ∅.
Das Fundierungsaxiom wird außerhalb der Mengenlehre kaum benutzt. In der Mengenlehre ermöglicht es einen stufenweisen Aufbau des Mengenuniversums, bei dem jeder Menge ein Maß für ihre Komplexität zugewiesen wird.
X. Auswahlaxiom
Ist a eine Menge, deren Elemente nichtleer und paarweise disjunkt sind, so existiert eine Menge b, die mit jedem Element von a genau ein Element gemeinsam hat.
Wir verweisen den Leser auf 1. 11 für eine Diskussion des Auswahlaxioms.