Das Umfangsproblem für Ellipsen

 Eine Ellipse Ea, b hat die Fläche A = a b π. Die Berechnung ihres Umfangs U ist überraschend komplex. Ein einfacher Zusammenhang A und U besteht nur im Fall a = b, die Sektorzerlegung hat für a ≠ b keinen einfachen Limes.

 Sei Ea, b eine achsenparallele Ellipse mit a ≥ b > 0. Wir parametrisieren die Ellipse durch die stetig differenzierbare Kurve g : [ 0, 2π ]  2 mit

g(t)  =  (a sin t, b cos t)  für alle t  ∈  [ 0, 2π ]

Die Kurve g durchläuft die Ellipse im Uhrzeigersinn mit Start in (0, b). Sie wird für das vorliegende Problem traditionell gegenüber der Standardparametrisierung bevorzugt. Für alle t  ∈  [ 0, 2π ] gilt:

g′(t)  =  (a cos t, − b sin t)

∥ g′(t) ∥2 =  a2 cos2 t  +  b2 sin2 t
=  a2 cos2  +  a2 sin2 t  −  a2 sin2  +  b2 sin2 t
=  a2  −  (a2 − b2) sin2 t  =  a2 (1  −  ε2 sin2 t)

mit der numerischen Exzentrizität

ε  =  1(b/a)2  <  1

Nach der Längenformel ist also für jedes φ  ∈  [ 0, 2π ]

L(g|[ 0, φ ])  =  a φ0 1ε2sin2t dt(Länge eines Ellipsenbogen)

die Länge des Ellipsenbogens im Intervall [ 0, φ ]. Für φ  ∈  [ 0, π/2 ] ergibt sich die Länge des Ellipsenbogen im ersten Quadranten bzgl. des Intervalls [ 0, a sin φ ] der x-Achse. Im Fall φ = π/2 erhalten wir ein Viertel des Umfangs und für φ = 2π ergibt sich der volle Umfang von Ea, b.

 Das Integral ist nicht mehr im Rahmen der elementaren Funktionen lösbar. Wir führen also neue Funktionen ein − genau über die Integrale, die wir berechnen wollten. Durch die Untersuchung ihrer Eigenschaften und durch ihre numerische Berechnung erscheinen sie nach und nach so natürlich wie die alten Funktionen, wenn auch eine Stufe komplizierter. In einer Welt, in der nur rationale Funktionen bekannt sind, werden früher oder später die nicht rationalen Funktionen log und arctan entdeckt, nämlich beim Problem, die rationalen Funktionen 1/x und 1/(1 + x2) zu integrieren. Rationale Funktionen haben stets rationale Ableitungen, aber nicht immer rationale Stammfunktionen. Analog steht es mit den umfassenderen elementaren Funktionen. Auch diese Funktionenklasse ist nicht abgeschlossen unter der Bildung von Stammfunktionen. Beim Integrieren können, wie im vorliegenden Fall, neue Funktionen auftreten. Wir definieren:

Definition (elliptisches Integral zweiter Art)

Sei ε  ∈  [ 0, 1 [. Dann ist für alle φ  ∈   das elliptische Integral E(φ, ε) zweiter Art definiert durch

E(φ, ε)  =  φ0 1ε2sin2t dt

Speziell heißt E(ε) = E(π/2, ε) das vollständige elliptische Integral zweiter Art.

Das Winkelintervall [ 0, π/2 ] entspricht wie oben bemerkt dem Viertel der Ellipse Ea, b im ersten Quadranten. Der Umfang von Ea, b berechnet sich zu

a E(2π, ε )  =  4 a E(π/2, ε)  =  4 a E(ε)(Umfang einer Ellipse)

Spezialfälle und Verlauf des elliptischen Integrals

(1)

Im Kreisfall ε = 0 ist der Integrand gleich 1 und E(φ, 0) = φ für alle φ.

(2)

Für ε = 1 ist der Integrand gleich |cos t|. Liegt ε nahe bei 1, so ist das elliptische Integral im Intervall [ π/2, π/2 ] annähernd gleich sin φ.

Variieren wir ε von 0 nach 1, so verformt sich das elliptische Integral E(φ, ε) für φ  ∈  [ − π/2, π/2 ] von der Identität in eine Sinuskurve.

ellipsen1-AbbIDarealength_elliptice_1

Verlauf der Funktionen E(φ, ε) auf dem Intervall [ −2π, 2π ] für einige ε

ellipsen1-AbbIDarealength_elliptice_1b

Die zugehörigen Integranden f(t, ε) = 1ε2sin2t auf [ −2π, 2π ]

ellipsen1-AbbIDarealength_elliptice_2

Die Funktionen E(φ, ε) auf dem kleineren Intervall [ −π/2, π/2 ], zusammen mit der Winkelhalbierenden und der Sinus-Funktion (gestrichelt) als Einhüllende

ellipsen1-AbbIDarealength_elliptice_2b

Die „breiten“ Maxima (0, 1) der Integranden f(t, ε) = 1ε2sin2t erklären die gute Approximation von E(φ, ε) durch die Winkelhalbierende bei 0

ellipsen1-AbbIDarealength_elliptice_3

Die Funktion 4 E(ε) erlaubt die Berechnung des Umfangs einer Ellipse: Eine Ellipse Ea, b mit der numerischen Exzentrizität ε hat den Umfang a 4 E(ε). Spezialfälle sind 4 E(0) = 2 π (Umfang des Einheitskreises) und der Grenzfall limε1 4 E(ε) = 4 (Umfang einer „flachgedrückten Ellipse“ mit großer Halbachse 1 und kleiner Halbachse 0).

ε

0

1/10

2/10

3/10

4/10

4 E(ε)

6,2832

6,2674

6,2199

6,1393

6,0238

2π − 4 E(ε)

0

0,01574

0,06331

0,1439

0,2594

ε

5/10

6/10

7/10

8/10

9/10

4 E(ε)

5,8698

5,6723

5,4226

5,1054

4,6868

2π − 4 E(ε)

0,4133

0,6109

0,8605

1,178

1,596

 Wir formen das Integral noch etwas um.

Legendre-Normalform für das elliptische Integral zweiter Art

Mit der Substitution

x  =  sin t,  t  =  arcsin x,  dt  =  11x2 dx

gilt für φ  ∈  [ −π/2, π/2 ] :

φ0 1ε2sin2t dt =  sin(φ)0 1ε2x21x2 dx

Im Grenzfall |φ| = π/2 ist das Integral auf der rechten Seite uneigentlich.

Direkte Herleitung der Legendre-Form

Die Legendre-Form ergibt sich auch, wenn wir die obere Hälfte der Ellipse Ea, b durch die Funktion f : [ − a, a ]   mit

f (t)  =  b/a a2t2  für alle t  ∈  [ − a, a ]

darstellen und die Längenformel für Funktionsgraphen anwenden. Denn für alle t0  ∈  [ − a, a ] gilt (mit einem uneigentlichen Integral im Grenzfall):

L(f|[ 0, t0 ]) =  t00 1+f ′(t)2 dt
=  t00 1+b2a2t2a2t2 dt
=  t00 a2t2+(b2/a2)t2a2t2 dt
=  t00 a2ε2t2a2t2 dt  Subst.: t = a x,  dt = a dx
=  a t0/a0 1ε2x21x2 dx

Zudem ist L(f|[0, t0 ]) = L(g|[ 0, φ ]) mit sin φ = t0/a.

 Für eine weitere Umformung verwenden wir eine klassische Methode zur Elimination trigonometrischer Funktionen aus einem Integranden:

Die allgemeine Arkustangens-Substitution

Die Substitution

t  =  2arctan x,  dt  =  21 + x2 dx,  x  =  tan(t/2)

ersetzt „dt“ sowie alle Terme cos(t) und sin(t) im Integranden durch rein rationale Funktionen in x. Denn mit den Umrechnungsformeln

cos(arctan x)  =  11+x2,  sin(arctan x)  =  x1+x2

erhalten wir unter Verwendung der Verdopplungsformeln:

cos t  =  cos(2arctan x)  =  cos2(arctan x)  −  sin2(arctan x)  =  1 − x21 + x2

sin t  =  sin(2arctan x)  =  2 cos(arctan x) sin(arctan x)  =  2x1 + x2

Diese Formeln sind für alle x  ∈   gültig. Die Terme in x auf der rechten Seite sind rationale Funktionen mit Polynomen vom Grad kleinergleich 2.

Arkustangens-Substitution für das elliptische Integral zweiter Art

Mit der Substitution x = 2 arctan t gilt für φ  ∈  ] −π, π [

φ0 1ε2sin2t dt =  tan(φ/2)0 1ε24x2/(1+x2)2 21 + x2 dx
=  2 tan(φ/2)0 (1+x2)24ε2x2(1+x2)2 dx
=  2 tan(φ/2)0 x4+δx2+1(1+x2)2 dx

wobei δ = 2(1 − 2ε2). Mit ± ∞ als oberer Integrationsgrenze gilt die Identität auch für φ = ± π mit einem uneigentlichen Integral.

Beispiel

Unter Verwendung der Logarithmus-Darstellung der Areafunktionen und des Additionstheorems für den Tangens gilt:

 1cos t dt  =   1 + x21 − x2 21 + x2 dx  =  2  11 − x2 dx  =  2 artanh x

 =  2 artanh (tan(t/2))  =  log (1 + tan(t/2)1 − tan(t/2))  =  log(tan(t/2 + π/4))