Die Krümmung einer Kurve

 Wir betrachten eine zweimal stetig differenzierbare Kurve f : I  2 mit einem Intervall I = [ a, b ] ⊆ . Wir nehmen im Folgenden an, dass die Kurve regulär ist, d. h. es gilt f ′(t) ≠ 0 für alle t. Für jedes t  ∈  I können wir den Tangentialvektor f ′(t) dynamisch als die Geschwindigkeit zur Zeit t eines sich gemäß f in der Ebene bewegenden Punktes auffassen. Analog gibt die zweite Ableitung f ″(t) die Beschleunigung des Punktes zur Zeit t an. In diese Beschleunigung geht ein:

(a)

Die Änderung des Betrags der Geschwindigkeit.

(b)

Die Änderung der Richtung der Geschwindigkeit.

Anschaulich können wir diese beiden Aspekte als „Gasgeben/Bremsen“ und „Lenken“ beschreiben. Die Länge des Vektors f ″(t) ist kein direktes Maß für die anschauliche geometrische Krümmung der Spur von f an der Stelle t.

Beispiel

Die Kurve f : [ 0, 1 ]  2 mit f (t) = (t2, 0) durchläuft die Strecke vom Nullpunkt bis (1, 0) mit der konstanten anschaulichen Krümmung 0. Ihre zweite Ableitung f ″(t) = (2, 0) ist an jeder Stelle von 0 verschieden. Der Punkt verläuft geradlinig mit konstanter Beschleunigung. Analoges gilt für f (t) = (t3, 0) mit f ″(t) = (6t, 0). Hier ist der Betrag der tangentialen Beschleunigung nicht mehr konstant.

 Für eine beliebige Kurve ist es nicht einfach, den für die geometrische Krümmung verantwortlichen „lediglich biegenden“ Anteil der Beschleunigung herauszufiltern. Wir argumentieren wie folgt:

Eine Heuristik zur Krümmungsformel

(1)

Die geometrische Krümmung einer Kurve hängt nur von ihrer Spur ab und nicht von der Parametrisierung. Eine Umparametrisierung der Form φ(t) = „c t + t0“ mit c ≠ 0 führt zu einem Faktor c in der Geschwindigkeit und einem Faktor c2 in der Beschleunigung. Dies müssen wir in unserer Formel ausgleichen.

(2)

Die Beschleunigung w = f ″(t) von f an einer Stelle t hat einen tangentialen Anteil w1 und einen dazu orthogonalen Anteil w2. Mit dem Tangentialvektor v = f ′(t) gilt (vgl. die Diskussion in „Leitlinien“):

w1  =  prv(w)  =  〈 v̂, w 〉

w2  =  lotv(w)  =  w − prv(w)  =  det(v̂, w) rotπ/2(v̂)

In unsere Formel geht nur der orthogonale Anteil w2 („Lenken“) und nicht der tangentiale Anteil w1 („Gasgeben/Bremsen“) ein.

In einem Satz formuliert:

Der „biegende Anteil“ der Beschleunigung ist das Lot von f ″/∥ f ′(t) ∥2 auf f ′(t).

Der Faktor ∥ f ′(t) ∥−2 gleicht die von der Durchlaufgeschwindigkeit abhängige Beschleunigung aus. Das Fällen des Lots löscht den tangentialen Anteil der Beschleunigung. Diese Überlegungen motivieren:

Definition (Krümmung, Krümmungsradius, Krümmungskreis)

Sei f : I  2 eine zweimal stetig differenzierbare reguläre Kurve. Weiter sei t  ∈  I. Wir setzen c = ∥ f ′(t) ∥ und definieren:

curvf(t)  =  lotf ′(t) f ″(t)/c2(Krümmungsvektor)

kf(t)  =  det(f ′(t), f ″(t))c3(signierte Krümmung)

κf(t)  =  | kf(t) |(Krümmung)

Entsprechend dem Vorzeichen sgn(kf(t))  ∈  { 1, 0, −1 } heißt f an der Stelle t (strikt) linksgekrümmt, ungekrümmt bzw. (strikt) rechtsgekrümmt.

 Die signierte Krümmung ist durch die Berechnung des Lotvektors mit Hilfe der Determinante motiviert:

curvf(t)  =  lotf ′(t) f ″(t)/c2  =  det(f ′(t)/c, f ″(t)/c2) rotπ/2(f ′(t)/c)  =  k rotπ/2(f ′(t)/c)

Das Vorzeichen von k entspricht der Orientierung des Paars (f ′(t), f ″(t)). Bei positiver Orientierung zeigt der Krümmungsvektor nach links, wenn wir von f (t) in Richtung f ′(t) blicken. Analog zeigt er bei negativer Orientierung nach rechts. Ist die Determinante 0 (d. h. sind Geschwindigkeit und Beschleunigung kollinear), so ist der Krümmungsvektor 0.

 Mit Hilfe elementarer Eigenschaften des Lots können wir leicht zeigen:

Satz (Unabhängigkeit der Krümmung von der Parametrisierung)

Sei f wie in der Definition, und sei g = f ∘ φ eine Umparametrisierung von f mit einer zweimal stetig differenzierbaren Bijektion φ : J  I. Weiter sei t  ∈  I und s = φ−1(t). Dann gilt curvg(s) = curvf(t).

Beweis

Mit cg = ∥ g′(s) ∥ und cf = ∥ f ′(t) ∥ gilt:

g′(s)  =  φ′(s) f ′(φ(s))  =  φ′(s) f ′(t)

g″(s)  =  φ′(s)2 f ″(φ(s))  +  φ″(s) f ′(φ(s))  =  φ′(s)2 f ″(t)  +  φ″(s) f ′(t)

cg  =  ∥ g′(s) ∥  =  |φ′(s)| ∥ f ′(t) ∥  =  |φ′(s)| cf

curvg(s) =  cg−2 lotg′(s) g″(s)
=  cg−2 lotf ′(t) ( φ′(s)2 f ″(t)  +  φ″(s) f ′(t))(g′(s) kollinear zu f ′(t)
=  cf−2 lotf ′(t) f ″(t)  =  curvf(t)

 Bei einer orientierungserhaltenden Umparametrisierung stimmen zudem die signierten Krümmungen überein. Bei einer Orientierungsumkehr ändert die signierte Krümmung das Vorzeichen.

 Um die Krümmung von f geometrisch zu interpretieren, wenden wir die Formeln auf Kreise an:

Beispiel:  Kreise

Wir betrachten wir einen zentrischen Kreis Kr, eine Winkelgeschwindigkeit ω > 0 und die Parametrisierung g : [ 0, 2π/ω ]  2 mit

g(t)  =  r (cos(ωt), sin(ωt))  für alle t  ∈  [ 0, 2π/ω ]

die den Kreis gegen den Uhrzeigersinn mit der Winkelgeschwindigkeit ω durchläuft. Sei t  ∈  [0, 2π/ω ]. Dann gilt:

v  =  g′(t)  =  r ω (− sin(ωt), cos(ωt))

w  =  g″(t)  =  − r ω2 (cos(ωt), sin(ωt))  =  r ω2 rotπ/2(v)

Die Vektoren v und w sind orthogonal, sodass lotv(w) = w. Mit ∥v∥ = r ω und ∥w∥ = r ω2 erhalten wir

curvg(t)  =  (r ω)−2 lotv w  =  (rω)−2 w  =  r−1 rotπ/2(v̂)

k(t)  =  κ(t)  =  r−1(konstante Krümmung)

Krümmung und Radius sind invers zueinander. Durchlaufen wir Kr im Uhrzeigersinn, so ändert die signierte Krümmung ihr Vorzeichen.

 Wir betrachten nun ein t mit kf(t) ≠ 0. Für jeden Radius r > 0 können wir an die Kurve f im Punkt f (t) einen Kreis mit Radius r tangential in Richtung der Krümmung anlegen und durch eine Kurve g parametrisieren, sodass g(s) = f (t) für ein s. Unsere Berechnung zeigt, dass curvf(t) = curvg(s) genau dann gilt, wenn wir den Radius des Kreises als r = 1/κf(t) wählen. In diesem Sinne gibt es einen optimalen sich an die Kurve f anschmiegenden Kreis:

Definition (Krümmungskreis, Krümmungsradius)

Sei f : I  2 eine zweimal stetig differenzierbare reguläre Kurve. Weiter sei t  ∈  I mit kf(t) ≠ 0. Dann definieren wir den Krümmungskreis Kr, M von f an der Stelle t durch:

rf(t)  =  κf(t)−1(Krümmungsradius)

Mf(t)  =  f (t)  +  rf(t)kf(t) curvf(t)(Krümmungskreismittelpunkt)

Den Mittelpunkt Mf(t) erhalten wir, indem wir den Krümmungsvektor auf die Länge rf(t) skalieren (unter Erhalt der Richtung) und f (t) anfügen. Wir können diesen Vektor in verschiedenen Varianten darstellen:

Mf(t) =  f (t)  +  sgn(k) r rotπ/2(f ′(t)c)
=  f (t)  +  ∥ f ′(t) ∥2det(f ′(t), f ″(t)) rotπ/2(f ′(t))  mit  rotπ/2(f ′(t))  =  (−f2′(t), f1′(t))

Die letzte Form verwenden wir für die Kegelschnitt-Berechnungen unten.

 Es ist nützlich, die Formeln auf Funktionen zu spezialisieren:

Krümmungsformeln für reelle Funktionen

Eine zweimal stetig differenzierbare Funktion f : [ a, b ]   können wir wie üblich als reguläre Kurve g : [ a, b ]  2 mit g(t) = (t, f ′(t)) auffassen. Sei nun t  ∈  [ a, b ]. Dann gilt

g′(t)  =  (1, f ′(t)) ≠ 0,  g″(t)  =  (0, f ″(t))  für alle t  ∈  [ a, b ]

Wir erhalten (unter der Voraussetzung f ″(t) ≠ 0 für den Krümmungskreis):

c  =  ∥ g′(t)) ∥  =  1+f ′2(t),  rotπ/2(g′(t)/c)  =  1/c (− f ′(t), 1)

curvf(t)  =  lot(1, f ′(t)) (0, f ″(t)/c2)(Krümmungsvektor)

kf(t)  =  f ″(t)c3,  r  =  1|kf(t)|(Krümmung, Krümmungsradius)

Mf(t)  =  (t, f (t))  +  c2f ″(t) (− f ′(t), 1)(Krümmungskreismittelpunkt)

 Explizit halten wir auch noch einen wichtigen Spezialfall für Kurven fest:

Krümmungsformeln für Bogenlängen-Kurven

Sei f : I  2 eine zweimal stetig differenzierbare Bogenlängen-Kurve. Weiter sei t  ∈  I. Dann gilt:

c  =  ∥ f ′(t) ∥  =  1

〈 f ′(t), f ″(t) 〉  =  0

Damit erhalten wir die einfachen Formeln:

curvf(t)  =  lotf ′(t) f ″(t)/c2  =  f ″(t)

k(t)  =  det(f ′(t), f ″(t))

κ(t)  =  ∥ f ″(t) ∥

Die zweite Ableitung fällt für diesen Kurventyp ohne Modifikation mit dem Krümmungsvektor zusammen, da keine Tangentialbeschleunigung stattfindet und die Durchlaufgeschwindigkeit normiert ist.

 Zum klassischen Bestand der Krümmungstheorie gehört es auch, die Krümmungskreismittelpunkte einer Kurve zu verfolgen. Wir definieren hierzu:

Definition (Evolute)

Sei f : I  2 zweimal stetig differenzierbar und regulär. Dann heißt die Kurve g : I  2 mit g(t) = Mf(t) für alle t  ∈  I die (als parametrisierte Kurve dargestellte) Evolute von f.

Die Spur von g hängt nicht von der Parametrisierung von f ab. In diesem Sinne wird die Evolute als Teilmenge der Ebene aufgefasst. Wir berechnen unten die Evoluten von Ellipsen, Hyperbeln und Parabeln.

Alternative Zugänge

Der Krümmungsbegriff für Kurven kann auf unterschiedliche Weisen eingeführt werden. Ein möglicher Weg ist es, zuerst die Krümmung für Bogenlängen-Kurven einzuführen und danach die Begriffe auf allgemeine Kurven zu übertragen. Wir verweisen den interessierten Leser hierzu auf die Literatur zur Analysis und Differentialgeometrie (etwa die „Analysis 2“ des Autors). Im Anhang des vorliegenden Buches findet sich ein alternativer Zugang zur Krümmungsformel, der unsere Ergebnisse über „Kreise durch drei Punkte“ und die Taylor-Approximation verwendet. Hier wird die „lokale Approximation durch einen Kreis“ an die Spitze gestellt. Eine Herleitung der Formeln für reelle Funktionen (ohne Rückgriff auf den Kurvenbegriff) findet sich zum Beispiel in der „Analysis 1“ des Autors.

 Das folgende Diagramm fasst unsere Diskussion zusammen.

ellipsen1-AbbIDcurvature_formula_1

Illustration der Krümmung einer Kurve: Es gilt

w  =  f ″(t)/c2  mit  c  =  ∥ v ∥,  v  =  f ′(t)

w1  =  prv(w),  w2  =  lotv(w)  =  curvf(t)

κ  =  ∥ w2 ∥,  r  =  1/k

M  =  f (t)  +  r ŵ2,  K  =  Kr, M

Die Berechnung des Lots mit Hilfe der Determinante ergibt die Krümmungsformel:

curvf(t)  =  lotv(w)  =  det(v̂, w) rotπ/2(v̂)  =  det(f ′(t), f ″(t))c3 rotπ/2(v̂)

Der Skalar bei rotπ/2(v) ist die signierte Krümmung k von f zur Zeit t. Das Lot hat die korrekte Richtung, die sich im Vorzeichen der Determinante widerspiegelt.

Die Skalierung der Beschleunigung in w = f ″(t)/∥ f ′(t) ∥2 gleicht die Wirkung eines Durchlaufs der Kurve mit der c-fachen Geschwindigkeit an der Stelle t aus (c > 0). Die Krümmung k und Kreis K bleiben bei einer orientierungserhaltenden Umparametrisierung gleich. Bei Umkehr der Orientierung ändert k das Vorzeichen.