Der Lenz-Vektor

 Das zweite Keplersche Gesetz konnten wir überraschend einfach und allgemein mit Hilfe der Drehimpulserhaltung für Zentralkräfte zeigen. In einem Gravitationsfeld existiert neben Drehimpuls und Energie eine weitere „verborgene“ Erhaltungsgröße, mit deren Hilfe wir das erste Keplersche Gesetz vergleichsweise einfach − und erneut ohne Lösen der Differentialgleichung − herleiten können.

Definition (Lenz-Vektor)

Wir definieren für alle (q, p)  ∈  U × 3 den Lenz-Vektor A(q, p) durch

A(q, p)  =  p × L(q, p)  −  m k q̂(Lenz-Vektor)

 Der Vektor ist nicht leicht zu motivieren. Er hat eine lange Geschichte und wurde mehrfach entdeckt. Oft wird er historisch korrekter auch als Laplace-Runge-Lenz-Vektor bezeichnet. Wir schreiben auch kurz A = p × L − m k q̂.

Lage des Lenz-Vektors

Sei (q, p)  ∈  U × 3. Wir nehmen L ≠ 0 an, sodass p und q eine Ebene E des 3 aufspannen. Der Vektor p × L liegt in E und er steht senkrecht auf p. Mit der Grassmann-Identität („bac − cab Regel“) für ein doppeltes Kreuzprodukt erhalten wir genauere Information:

p × L =  p × (q × p)  =  〈 p, p 〉 q  −  〈 p, q 〉 p
=  ∥ p ∥2 q  −  〈 p, q 〉 p  =  ∥ p ∥2 (q  −  〈 p̂, q 〉)
=  ∥ p ∥2 (q  −  prp(q))
=  ∥ p ∥2 lotp(q)

mit der orthogonalen Projektion prp(q) und dem Lot lotp(q) von q auf p. Insbesondere gilt ∡(q, p × L)  ∈  ] 0, π/2 ] und liegt p × L in der gleichen Halbebene bezüglich p, in der q liegt. Steht p senkrecht auf q, so gilt

p × L  =  ∥ p ∥2 lotp(q)  =  ∥ p ∥2 q (orthogonaler Fall)

Analog gilt mit vertauschten Rollen von q und p:

q × L  =  q × (q × p)  =  − q × (p × q)  =  − ∥ q ∥2 lotq(p)

Der zweite Bestandteil m k q̂ des Lenz-Vektors liegt auf dem Kreis Km k der Ebene E mit dem Radius mk, sodass A  ∈  E. Ist q orthogonal zu p, so gilt

A  =  ∥ p ∥2 q  −  m k q̂  =  (∥ p ∥2 ∥ q ∥  −  m k)(orthogonaler Fall)

ellipsen1-AbbIDkepler_lenzvecfield_1

Das Vektorfeld A(q, p) mit m = k = 1, festem Ort q = (1, 0) und variablem Impuls p = (x, y) mit −2 ≤ x, y ≤ 2. Es gilt A(q, p) = 0 für p = (0, ±1). Die Farben entsprechen der Länge der Vektoren wie in der Legende. Wir identifizieren 2 mit 2 × { 0 } ⊆ 3.

ellipsen1-AbbIDkepler_lenzlength_1

Die reelle Funktion ∥ A(q, p) ∥ mit m = k = 1, q = (1, 0) und p wie oben.

ellipsen1-AbbIDkepler_lenzvecfield_2

Analog A(q, p) mit m = k = 1, festem Impuls p = (0, 1) und variablem Ort q = (x, y) mit −2 ≤ x, y ≤ 2, q ≠ 0. Es gilt A(q, p) = 0 für q = (±1, 0).

ellipsen1-AbbIDkepler_lenzlength_2

∥ A(q, p) ∥ mit m = k = 1, p = (0, 1) und q wie oben. Es gilt

limq  0 ∥ A(q, p) ∥  =  limq  0 ∥ q̂ ∥  =  1  (mit q ≠ 0)

 Wie der Drehimpuls ist der Lenz-Vektor konstant entlang von Lösungen im Phasenraum:

Satz (Erhaltung des Lenz-Vektors)

Der Lenz-Vektor A ist eine Erhaltungsgröße der Differentialgleichung (#).

Beweis

Sei (q, p) eine Lösung von (#) im Phasenraum. Dann gilt für alle t  ∈  I nach der Produktregel, der Erhaltung des Drehimpulses, der Grassmann-Identität und obiger Berechnung von q × L:

ddt(p(t) × L(t)) =  p′(t) × L(t)  +  p(t) × L′(t)
=  − k∥ q(t) ∥3 q(t)  ×  L(t)  +  0
=  k∥ q(t) ∥ lotq(t)(p(t))

Mit p = m q′ gilt für alle t  ∈  I:

ddt m k q̂(t) =  m k ddtq(t)∥ q(t) ∥
=  m k (q′(t)∥ q(t) ∥ − 1∥ q(t) ∥3 〈 q(t), q′(t) 〉 q(t))
=  k∥ q(t) ∥ (p(t)  −  prq(t)(p(t)))
=  k∥ q(t) ∥ lotq(t)(p(t))

Die beiden Ableitungen stimmen überein, sodass d/dt A(t) = 0.

 Wir versammeln:

Satz (Eigenschaften des Lenz-Vektors)

Sei (q, p)  ∈  U × 3. Dann gilt:

(1)

〈 q, p × L 〉  =  ∥ L ∥2(Volumen des von q, p, L erzeugten Spats)

(2)

〈 q, A 〉  =  ∥ L ∥2  −  m k ∥ q ∥

(3)

∥ q ∥ (m k  +  ∥ A ∥ cos(α))  =  ∥ L ∥2,  wobei  α = ∡(q, A)

Beweis

Es gilt:

〈 q, p × L 〉 =  det((q; p; L))
=  det((L; q; p))
=  〈 L, q × p 〉
=  〈 L, L 〉  =  ∥ L ∥2

Damit erhalten wir:

〈 q, A 〉  =  〈 q, p × L 〉  −  m k 〈 q, q̂ 〉  =  ∥ L ∥2  −  m k ∥ q ∥

Dies zeigt die beiden ersten Aussagen. Die dritte Aussage ergibt sich aus (2) und der Winkelformel:

〈 q, A 〉  =  ∥ q ∥ ∥ A ∥ cos(α)

Bemerkung

Die Formel (1) erhalten wir auch aus unserer Berechnung von p × L:

〈 q, p × L 〉 =  〈 q, ∥ p ∥2 lotp(q) 〉
=  ∥ p ∥2 〈 q, lotp(q) 〉(mit  〈 v, lotu(v) 〉 = 〈 lotu(v), lotu(v) 〉)
=  ∥ p ∥2 ∥ lotp(q) ∥2
=  ∥ q × p ∥2
=  ∥ L ∥2