Gravitations-Ellipsen (Methode 1)

 Kepler hatte die heute nach ihm benannten Gesetze vor der Newtonschen Mechanik anhand von empirischen Daten von Tycho Brahe auf seiner Suche nach der „Harmonik der Welt“ gefunden. Durch das Gravitationsgesetz wurde die Aufgabe des Nachweises der Gesetze und die genauere Erforschung der Bewegungen der Himmelskörper zu einem Problem der mathematischen Physik. Die zugehörige Differentialgleichung

(#)  q″(t)  =  − ω′2∥ q(t) ∥2 q̂(t)  =  − ω′2∥ q(t) ∥3 q(t),  mit  ω′ = k/m

hat jedoch, im Gegensatz zum harmonischen Oszillator, keine einfache Lösung. Die Kegelschnitt-Form der Bahnen haben wir nachgewiesen, ohne die Gleichung zu lösen. Dennoch lassen sich, wie wir nun zeigen wollen, die Bahnkurven konkret angeben. Wir können die Gleichung zwar nicht − wie viele andere Differentialgleichungen der Mathematik − mit einem systematischen Verfahren lösen, aber der folgende Lösungsweg ist dennoch weit mehr als ein reines Raten. Die Bahnkurven hätten prinzipiell in dieser Weise entdeckt werden können. Nicht zuletzt ist der Ansatz auch didaktisch von Interesse, da die Methoden nur einen Schritt über die Schulmathematik hinausgehen.

 Wir nehmen in einem Gedankenexperiment an, dass wir in der Zeit von Kepler um 1600 leben, aber die mathematische Analysis bereits zur Verfügung steht und zudem die Differentialgleichung (#) ungelöst vorliegt. Nun erhalten wir neue experimentelle Daten von Tycho Brahe über die Bewegung der Planeten. Die Auswertung der Daten passt nicht zur im 16. Jahrhundert vorherrschenden Theorie des Kopernikus, derzufolge sich die Planeten auf Kreisbahnen um die Sonne bewegen. Auch die Korrektur dieser Kreisbahnen durch Epizyklen (kleinere Aufkreise auf den Kreisen) ist unbefriedigend und am Ende ein Irrweg. Wir sehen keine Alternative, der Daten-Dschungel erscheint undurchdringlich. Nun entdeckt Kepler nach jahrelanger Auswertung der Daten sein erstes Gesetz:

Die kreisförmige Bewegung der Planeten wird durch eine elliptische Bewegung ersetzt. Die Sonne steht nicht im Zentrum der elliptischen Bahn, sondern in einem Brennpunkt der Bahnellipsen.

Das ist eine revolutionäre Sicht, die zur aktuellen Empirie des Sonnensystems viel besser passt als alles andere. Obwohl die Abweichung der elliptischen Bahnen von einer Kreisbahn sehr klein ist und damit die Brennpunkte sehr nahe am Zentrum stehen, sind diese Unterschiede für die mathematische Lösung des Problems von enormer Bedeutung. Zum Glück gab es den Mars, mit einer vergleichsweise großen Exzentrizität von etwa 0,09. Und die genauen Daten von Tycho Brahe. Dennoch hat niemand außer Kepler die Ellipsen gesehen, und auch er hat Zeit gebraucht, um sich von den Kreises des Kopernikus zu verabschieden.

 Nun sind wir an der Reihe, ausgerüstet mit analytischem Handwerkszeug und dem alten geometrischen Wissen über Kegelschnitte. Die Analysis ist um 1600 anachronistisch, die Kegelschnitte sind es keineswegs. Die elliptische Wende fällt unter die Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance.

 Unser Ansatz lässt sich insgesamt wie folgt beschreiben:

1. Ellipsenbahn

Die Bahn q[  ] einer Lösung von (#) soll − der Keplerschen Entdeckung folgend − eine fokusierte Ellipse E der Form EF1a, b mit a ≥ b sein. Die Bahn beschreiben wir mit Hilfe der Kosinus- und Sinus-Funktion als ebene Kurve in Anlehnung an die Standard-Parametrisierung

f (t)  =  (a cos(ωt) − e, b sin(ωt))  für alle t  ∈  

der Ellipse E mit einer konstanten Winkelgeschwindigkeit ω (bzgl. eines E umschließenden Kreises). Die Ausrichtung der großen Halbachsen der Ellipse an der x-Achse geschieht der Einfachheit halber. Wir nehmen nicht an, dass mathematisch bewiesen ist, dass die Lösungsbahnen Ellipsen sind. Das erste Keplersche Gesetz verwenden wir als empirische Hilfestellung zur Formulierung eines Lösungsansatzes.

2. Anpassung der Winkelgeschwindigkeit

Aus den Daten ist zu entnehmen, dass die Planetenbewegung am Perihel beschleunigt und am Aphel verlangsamt ist. Die Winkelgeschwindigkeit der Bahnkurve ist entsprechend zu modifizieren. Den Term ωt in der Definition von f (t) ersetzen wir durch eine von ε abhängige Funktion gε(ωt). Sie ist nur für den Kreisfall ε = 0 konstant gleich ωt. Wie die Funktion aussieht, ist nicht klar. Das zweite und dritte Keplersche Gesetz werden wir bei diesem Ansatz nicht verwenden, und auch wenn diese Gesetze vorliegen, ist die Funktion alles andere als offensichtlich.

3. Erweiterung der Grundfunktionen

Wir finden trotz intensiver Bemühungen keine Lösung der Differentialgleichung innerhalb der elementaren Funktionen. Wie wir die gε-Funktion mit Hilfe unserer Grundfunktionen auch definieren − es passt nicht. Wir ziehen daher eine nichtelementare Modifikation der Winkelgeschwindigkeit in Betracht. Nichtelementare Funktionen entstehen in erster Linie durch Integrale und durch die Bildung von Umkehrfunktionen. Und die Umkehrfunktionen führen schließlich zum Ziel. In unserem Gedankenexperiment können wir ergänzen: nach vielen Fehlversuchen.

 Das Problem der Differentialgleichung (#) ist die Norm im Nenner der rechten Seite, die je nach Formulierung quadratisch oder in der dritten Potenz erscheint. Die Reproduktion von q(t) bis auf eine negative Konstante durch zweimaliges Ableiten ist von den trigonometrischen Funktionen her gut bekannt. Wie kommt aber die dritte Potenz in q(t)/∥ q(t) ∥3 bei einer zweiten Ableitung ins Spiel? Eine Antwort gibt:

Ableitungsregeln für die Umkehrfunktion

Ist f : P  Q mit P, Q ⊆  differenzierbar und bijektiv, so ist bekanntlich auch die Umkehrfunktion g = f −1 differenzierbar und es gilt

g′(y)  =  1f ′(g(y))  für alle y  ∈  Q

Mit Hilfe der Kettenregel können wir (unter der Voraussetzung der zweifachen Differenzierbarkeit) auch eine Formel für die zweite Ableitung der Umkehrfunktion angeben. Für alle y  ∈  Q gilt:

g″(y) =  ddx 1f ′(g(y))  =  − 1f ′(g(y))2 ddx f ′(g(y))
=  − 1f ′(g(y))2 f ″(g(y)) g′(y)  =  − f ″(g(y))f ′(g(y))3

Äquivalent sind die Versionen:

g′(f (x))  =  1f ′(x),  g″(f (x))  =  − f ″(x)f ′(x)3  für alle x  ∈  P

 Während die Regel für die Ableitung der Umkehrfunktion zum analytischen Grundwissen gehört, wird die Formel für die zweite Ableitung üblicherweise nicht angegeben, da die zweite Ableitung direkt berechnet werden kann, sobald die erste Ableitung von g bekannt ist. Ist aber g im Gegensatz zu f eine nichtelementare Funktion, so gibt uns die Formel eine wichtige Information über die zweite Ableitung von g. Wir können sie mit Hilfe der ersten und zweiten Ableitung von f darstellen. Und sie liefert uns eine dritte Potenz im Nenner. Das ist, wie wir sehen werden, genau das, was wir für ein Gravitationsfeld brauchen.

 Insgesamt führen uns diese Überlegungen für die Differentialgleichung (#) zu folgendem Ansatz:

Lösungsansatz

Wir suchen nach einer Lösung q :   2 von (#) der Form

q(t)  =  (a cos g(ωt)  −  e,  b sin g(ωt))  für alle t  ∈  

mit a ≥ b > 0 und einer „komplizierten“ Funktion g :   , die wir als Umkehrfunktion einer „einfachen“ noch unbekannten streng monotonen Funktion f :    darstellen. Es wird also g = f −1 gelten. Die Bahn von q ist die Ellipse EF1a, b, deren Fokus F1 mit dem Nullpunkt zusammenfällt. Die Funktionen f und g haben die Periode T = 2π/ω. Die Konstante ω ist noch unbekannt. Für ε = 0 ist

f (ωt)  =  g(ωt)  =  ωt  für alle t  ∈  (Kreisfall)

Für ε > 0 werden f, g von der Identität mehr oder weniger stark abweichen.

 Diesen Ansatz wollen wir nun durchführen. Für die Norm erhalten wir mit Hilfe des Satzes von Pythagoras und e2 = a2 − b2, dass für alle t  ∈   gilt:

∥ q(t) ∥2 =  a2 cos2(g(ωt))  −  2 a e cos g(ωt)  +  a2  −  b2  +  b2 sin2(g(ωt)))
=  e2 cos2(g(ωt))  −  2 a e cos g(ωt)  +  a2
=  a2(1 − ε cos g(ωt))2

Folglich gilt

(+)  ∥ q(t) ∥  =  a (1 − ε cos g(ωt))  für alle t  ∈  

Die Ableitungen berechnen sich zu

q′(t)  =  ω g′(ωt) (− a sin g(ωt),  b cos g(ωt))

q″(t)  =  − ω2 (g″(ωt) (a sin g(ωt),  − b cos g(ωt))  +  g′(ωt)2 (a cos g(ωt), b sin g(ωt)))

Durch Vergleich der x- und y-Koordinate können wir ablesen, dass q genau dann eine Lösung der Differentialgleichung

(#)  ∥ q(t) ∥3 q″(t)  =  − ω′2 q(t)

ist, wenn mit τ = ω′/ω gilt:

(I)  ∥ q(t) ∥3 (g″(ωt) sin g(ωt)  +  g′(ωt)2 cos g(ωt))  =  τ2 (cos g(ωt) − ε)
(II)  ∥ q(t) ∥3 (− g″(ωt) cos g(ωt)  +  g′(ωt)2 sin g(ωt))  =  τ2 sin g(ωt)

Mit g = f −1 und den obigen Formeln

g′(ωt)  =  1f ′(g(ωt)),  g″(ωt)  =  − f ″(g(ωt))f ′(g(ωt))3

für die Ableitungen von g = f −1 erhalten wir nach Ausklammern:

(I) ∥ q(t) ∥3τ2 f ′(g(ωt))3 ( − f ″(g(ωt)) sin g(ωt)  +  f ′(g(ωt)) cos g(ωt))  =  cos g(ωt) − ε
(II)  ∥ q(t) ∥3τ2 f ′(g(ωt))3 ( f ″(g(ωt)) cos g(ωt)  +  f ′(g(ωt)) sin g(ωt))  =  sin g(ωt)

Mit der Formel (+) berechnet sich der Vorfaktor auf den linken Seiten zu

a3 (1 − ε cos g(ωt))3τ2 f ′(g(ωt))3

Wir können erreichen, dass dieser Vorfaktor konstant gleich 1 ist:

Konstruktion der elliptischen Lösung

Wir setzen:

A)

ω  =  k/(ma3),  sodass  τ2  =  a3

B)

f (α)  =  α − ε sin(α),  sodass  f ′(g(ωt))  =  1 − ε cos g(ωt)

Mit diesen Werten wird nicht nur der Vorfaktor neutralisiert, sondern es sind auch (I) und (II) erfüllt. Denn für alle t  ∈   gilt:

f ′(g(ωt))  =  1 − ε cos g(ωt),  f ″(g(ωt))  =  ε sin g(ωt),

sodass sich unter erneuter Verwendung des Satzes von Pythagoras ergibt:

− f ″(g(ωt)) sin g(ωt)  +  f ′(g(ωt)) cos g(ωt)  =  cos g(ωt)  −  ε

f ″(g(ωt)) cos g(ωt)  +  f ′(g(ωt)) sin g(ωt)  =  sin g(ωt)

Damit haben wir eine explizite Lösung von (#) gefunden, die nur einen Schritt über die elementaren Funktionen hinausgeht. Die „neue“ Funktion g ist die Umkehrfunktion von f in (B):

g  =  f −1  mit  f  =  id − ε sin

Wir können die Situation mit der Einführung der Arkus-Funktionen vergleichen, die ja ebenfalls „neu“ sind, wenn nur Kosinus und Sinus bekannt sind. Die lineare Kombination der Identität und der Sinus-Funktion in f lässt sich mit den Arkus-Funktionen nicht mehr umkehren. Wir brauchen einen neuen „Linear-Mix-Arkus“. Die Funktion f ist dabei recht anschaulich: Die Identität wird durch einen kleinen Sinus moduliert. Die Funktion ist eine schwingende Winkelhalbierende. (Diagramme folgen im nächsten Zwischenabschnitt.)

 Das erste Keplersche Gesetz haben wir durch unseren Ansatz verifiziert. Die beiden anderen Gesetze erhalten wir als Geschenk:

Zweites Keplersches Gesetz

Die Flächengeschwindigkeit 1/2 |det(q(t), q′(t))| der Lösung q ist zeitlich konstant (gleich ω a b/2), da für alle t  ∈   gilt:

det(q(t), q′(t)) =  ω g′(ωt) ((a cos g(ωt) − e) b cos g(ωt)  +  ab sin2 g(ωt))
=  ω a b g′(ωt) (1 − ε cos g(ωt))
=  ω a b 1 − ε cos g(ωt)f ′(g(ωt))  =  ω a b 1 − ε cos g(ωt)1 − ε cos g(ωt)  =  ω a b
Drittes Keplersches Gesetz

Nach (A) gilt mit T = (2π)/ω:

T2a3  =  4 π2ω2 a3  =  4 m π2 k