13. Vorlesung Die Vollständigkeit der reellen Zahlen
1. Die Irrationalität der Quadratwurzel aus 2
Satz (Irrationalität der Quadratwurzel aus 2)
ist irrational, d. h. es gibt keine natürlichen Zahlen n, m mit (n/m)2 = 2.
Beweis
Seien n, m ∈ ℕ. Wir betrachten die Primfaktorzerlegungen von n und m und schreiben
n | = 2a1 · 3a2 · 5a3 · … |
m | = 2b1 · 3b2 · 5b3 · … |
mit Exponenten ak, bk ≥ 0. Nach den Potenzregeln gilt
n2 | = 22 a1 · 32 a2 · 52 a3 · … |
2 m2 | = 22 b1 + 1 · 32 b2 · 52 b3 · … |
Dann sind die 2-Exponenten von n2 und 2m2 verschieden, da der erste der beiden Exponenten gerade, der zweite aber ungerade ist. Aufgrund der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung ist also n2 ≠ 2m2 und damit (n/m)2 ≠ 2.
Korollar
Die Funktion f : ℚ → ℚ mit f (q) = q2 − 2 für alle q ∈ ℚ hat keine Nullstelle.
2. Obere und untere Schranken
Definition (obere und unter Schranke)
Seien X ⊆ ℝ und s ∈ ℝ. Dann heißt s eine obere Schranke von X, in Zeichen X ≤ s, falls für alle x ∈ X gilt, dass x ≤ s. Analog heißt s eine untere Schranke von X, in Zeichen s ≤ X, falls für alle x ∈ X gilt, dass s ≤ x. Die Menge X heißt nach oben (unten) beschränkt, falls eine obere (untere Schranke) von X existiert. Schließlich heißt X beschränkt, falls X nach oben und unten beschränkt ist.
Definition (Minimum und Maximum)
Seien X ⊆ ℝ und s ∈ ℝ. Dann heißt s das Maximum oder von X, in Zeichen s = max(X), falls s ∈ X und X ≤ s. Analog heißt s das Minimum von X, in Zeichen s = min(X), falls s ∈ X und s ≤ X.
Für a1, …, an ∈ ℝ setzen wir zur Vereinfachung der Notation
max(a1, …, an) = max({ a1, …, an }),
min(a1, …, an) = min({ a1, …, an }).
Definition (Supremum und Infimum)
Seien X ⊆ ℝ und s ∈ ℝ. Dann heißt s das Supremum oder die kleinste obere Schranke von X, in Zeichen s = sup(X), falls s = min { t | X ≤ t }. Analog heißt s das Infimum oder die größte untere Schranke von X, falls s = max { t | t ≤ X }.
Beispiele
(1) | [ 0, 1 ] ≤ 1, [ 0, 1 [ ≤ 2. |
(2) | max([ 0, 1 ]) = 1, max([ 0, 1 [) existiert nicht, sup([ 0, 1 ]) = 1, sup([ 0, 1 [) = 1. |
(3) | Sei X = { q ∈ ℚ | q > 0 ∧ q2 ≤ 2 }. Dann ist X nach oben beschränkt, max(X) existiert nicht und sup(X) = ∉ ℚ. |
Das Maximum einer Menge ist immer ein Element der Menge. Das Supremum einer Menge kann der Menge angehören oder auch nicht. Existiert max(X), so ist sup(X) = max(X). Ist s = sup(X), so ist s = max(X ∪ { s }).
3. Das Vollständigkeitsaxiom
Axiom (Vollständigkeitsaxiom für die reellen Zahlen)
Jede nichtleere und nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum in den reellen Zahlen.
Konvention
sup(∅) = −∞, inf (∅) = ∞
sup(X) = ∞, falls X ⊆ ℝ nach oben unbeschränkt ist
inf (X) = −∞, falls X ⊆ ℝ nach unten unbeschränkt ist
−∞ < ∞, −∞ < x, x < ∞ | für alle x ∈ ℝ |
∞ + ∞ = ∞, −∞ − −∞ = −∞ | |
x + ∞ = ∞, x − ∞ = −∞, x/∞ = x/−∞ = 0 | für alle x ∈ ℝ |
x · ∞ = ∞, x · −∞ = −∞ | für alle x ∈ ] 0, ∞ ] |
x · ∞ = −∞, x · −∞ = ∞ | für alle x ∈ [ − ∞, 0 [ |
Nicht erklärt sind ∞ − ∞, −∞ + ∞, 0 · ∞, 0 · −∞, ±∞/∞, ∞/±∞.
Definition (Addition und Skalierung von Teilmengen von ℝ)
Für alle X, Y ⊆ ℝ und alle c ∈ ℝ setzen wir
X + Y = { x + y | x ∈ X und y ∈ Y },
X · Y = X Y = { xy | x ∈ X und y ∈ Y },
cX = { c x | x ∈ X }, −X = (−1) X = { −x | x ∈ X }.
Satz (Rechenregeln für Suprema und Infima)
Für alle nichtleeren X, Y ⊆ ℝ gilt:
(1) | sup(X + Y) = sup(X) + sup(Y), |
(2) | sup(c X) = c sup(X) für alle c > 0, |
(3) | sup(X · Y) = sup(X) sup(Y), falls 0 ≤ X, Y, |
(4) | X ⊆ Y impliziert sup(X) ≤ sup(Y), |
(5) | inf (X) = −sup(−X), sup(X) = −inf (−X). |
Analoge Regeln gelten für Infima.
Korollar (Existenz von Infima)
Sei X ⊆ ℝ nichtleer und nach unten beschränkt. Dann existiert inf (X).
4. Das Archimedische Axiom
Axiom (Archimedisches Axiom)
Für alle reellen Zahlen x > 0 gibt es eine natürliche Zahl n ≥ 1 mit 1/n < x.
Das Archimedische Axiom lässt sich aus dem Vollständigkeitsaxiom ableiten, sodass es nicht explizit gefordert muss.
Satz (Identifikation von Suprema mit Hilfe des archimedischen Axioms)
Sei X ⊆ ℝ nichtleer und nach oben beschränkt. Weiter sei s ∈ ℝ. Dann sind äquivalent:
(1) | s = sup(X). |
(2) | X ≤ s und für alle n ∈ ℕ* gibt es ein x ∈ X mit x + 1/n > s. |
Beweis
(1) impliziert (2) :
Sei s = sup(X). Dann gilt X ≤ s. Sei also n ≥ 1 beliebig. Da s die kleinste obere Schranke von X ist, ist s − 1/n keine obere Schranke von X. Also gibt es ein x ∈ X mit x > s − 1/n. Folglich ist x + 1/n > s.
(2) impliziert (1) :
Es gelte (2). Dann ist s eine obere Schranke von X. Sei nun t < s beliebig. Nach dem Archimedischen Axiom gibt es ein n ≥ 1 derart, dass 1/n ≤ s − t. Sei nun x ∈ X mit x + 1/n > s. Dann ist aber x > s − 1/n ≥ t, sodass t keine obere Schranke von X ist. Dies zeigt, dass s die kleinste obere Schranke von X ist.
5. Dichte Mengen
Satz (Dichtheit der rationalen Zahlen)
Seien x, y ∈ ℝ mit x < y. Dann gibt es ein q ∈ ℚ mit x < q < y.
Beweis
Wir setzen ε = y − x. Dann ist ε > 0. Folglich existiert ein n ≥ 1 mit 1/n < ε. Die Vielfachen m · 1/n ∈ ℚ, m ∈ ℕ, von 1/n sind unbeschränkt in ℝ und folgen aufeinander im Abstand 1/n, da
(m + 1) 1/n − m 1/n = (m + 1 − m) 1/n = 1/n für alle m ∈ ℕ.
Wegen 1/n < x − y muss eines dieser Vielfachen zwischen x und y liegen.
Definition (dicht)
Eine Menge D reeller Zahlen heißt dicht in ℝ, falls für alle x < y in ℝ ein z ∈ D existiert mit x < z < y.
Beispiele für in ℝ dichte Mengen sind ℚ, ℝ und { ± n/2m | n, m ∈ ℕ }.
6. Grenzwerte monotoner Folgen
Um die Notation zu vereinfachen, schreiben wir
supn xn statt sup({ xn | n ∈ ℕ }), infn xn statt inf ({ xn | n ∈ ℕ }).
Satz (Grenzwerte monotoner Folgen)
Sei x0, x1, …, xn, … eine Folge in ℝ. Dann gilt
(1) | Ist die Folge monoton wachsend, d. h. xn ≤ xn + 1 für alle n, so gilt limn xn = supn xn ∈ ℝ ∪ { ∞ }. |
(2) | Ist die Folge monoton fallend, d. h. xn > xn + 1 für alle n, so gilt limn xn = infn xn ∈ ℝ ∪ { −∞ }. |
Die Grenzwerte sind dabei genau dann Elemente von ℝ, wenn die Folge beschränkt ist.
Beispiele
(1) | Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = n für alle n ist monoton steigend. Es gilt limn xn = supn xn = ∞. |
(2) | Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = 1/2n für alle n ist monoton fallend. Es gilt limn xn = infn xn = 0. |
(3) | Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = (−1)n für alle n ist nicht monoton. Es gilt infn xn = −1 und supn xn = 1. Dagegen existiert limn xn nicht. |
7. Grenzwerte von Pendelfolgen
Definition (Pendelfolge)
Eine Folge x0, x1, …, xn, … in ℝ heißt eine linksstartende Pendelfolge, falls gilt:
x0 ≤ x2 ≤ … ≤ x2n ≤ … ≤ x2n + 1 ≤ … ≤ x3 ≤ x1.
Analog sind rechtsstartende Pendelfolgen definiert durch die Eigenschaft
x1 ≤ x3 ≤ … ≤ x2n + 1 ≤ … ≤ x2n ≤ … ≤ x2 ≤ x0.
Satz (Grenzwerte von Pendelfolgen)
Sei x0, x1, …, xn, …, eine linksstartende Pendelfolge in ℝ. Dann existiert der Grenzwert der Folge genau dann, wenn gilt:
infn (x2n + 1 − x2n) = 0.(Konvergenzbedingung für Pendelfolgen)
In diesem Fall ist limn xn = supn x2n = infn x2n + 1.
Beispiele
(1) | Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = (−1)n/2n für alle n ist eine rechtsstartende Pendelfolge mit 0 = limn xn = supn x2n + 1 = infn x2n. |
(2) | Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = (−1)n + 1 für alle n ist eine linksstartende Pendelfolge, die die Konvergenzbedingung nicht erfüllt. |
8. Intervallschachtelungen
Definition (Intervallschachtelung)
Eine Folge I0, I1, …, In, … von reellen Intervallen In heißt eine Intervallschachtelung, falls I0 ⊇ I1 ⊇ … ⊇ In ⊇ ….
Satz (Satz über Intervallschachtelungen)
Sei I0, I1, …, In, … eine Intervallschachtelung aus abgeschlossenen und beschränkten Intervallen In = [ an, bn ]. Weiter sei
I = ⋂n In = { x ∈ ℝ | x ∈ In für alle n ∈ ℕ }.
Dann gilt I = [ supn an, infn bn ] ≠ ∅. Weiter gilt I = { supn an } = { infn bn } genau dann, wenn limn(bn − an) = 0.
Beweis
Die monotonen Folgen a0, a1, … an, … und b0, b1, …, bn, … der linken und rechten Intervallgrenzen sind aufgrund der Schachtelung der Intervalle monoton steigend bzw. fallend und zudem beschränkt, sodass sie gegen ihr Supremum a bzw. Infimum b konvergieren. Das Intervall [ a, b ] ist ein Teilintervall jedes Intervalls In und somit im Durchschnitt I der Intervalle enthalten. Andererseits können wegen a = supn an und b = infn bn keine weiteren Punkte in I enthalten sein, sodass I = [ a, b ]. Aus der Äquivalenz von limn (an − bn) = 0 und a = b ergibt sich der Zusatz.
9. Die Dezimaldarstellung
Für m ∈ ℕ und Nachkommaziffern d1, …, dn ∈ { 0, …, 9 } setzen wir
m, d1 … dn = m + d110 + d2100 + … + dn10n.(endlicher Dezimalbruch)
Lesen wir die Ziffernfolge d1 … dn als Dezimalzahl, so gilt
m, d1 … dn = m + d1…dn10n.
Charakterisierung der endlichen Dezimalbrüche
Genau die rationalen Zahlen q ≥ 0 der Form q = a/10n lassen sich als endlicher Dezimalbruch schreiben. In gekürzter Form sind dies genau die Brüche, deren Nenner nur die Primfaktoren 2 und 5 enthält.
Definition (unendlicher Dezimalbruch)
Für m ∈ ℕ und eine Folge (dn)n ∈ ℕ in { 0, …, 9 } setzen wir
m, d1 d2 … = supn m, d1 … dn.(unendlicher Dezimalbruch)
Jeder unendliche Dezimalbruch definiert eine eindeutige reelle Zahl x ≥ 0. Die Umkehrung ist im Allgemeinen nicht gültig.
Beispiel: Neuner-Periode
Es gilt 1 = 1,000… = 0,999… Denn nach Definition ist
0,999… | = supn 0,9…9 (mit n Stellen) |
= supn (1 − 1/10n) = 1 − infn 1/10n = 1 − 0 = 1. |
Der Einwand, dass zu 1 in 0,999… immer noch „etwas fehlen“ würde, ist damit entkräftet: 0,999… ist definiert als Supremum einer Menge und ein Supremum muss einer Menge nicht angehören.
Charakterisierung der Nichteindeutigkeit
Jede reelle Zahl x ≥ 0 hat genau eine oder genau zwei unendliche Dezimaldarstellungen. Genauer gilt:
(1) | 0 hat die eindeutige unendliche Dezimaldarstellung 0 = 0,000… |
(2) | Eine reelle Zahl x > 0 hat genau dann zwei unendliche Darstellungen, wenn x von der Form m, d1 … dn ist mit dn ≠ 0. In diesem Fall gilt x = m, d1 …dn000…(Nullfortsetzung) x = m, d1… (dn − 1)999…(Neuner-Periode) |