14. Vorlesung Grenzwerte für Folgen und Reihen
1. Folgen
Definition (Folge in einer Menge)
Sei M eine Menge. Eine Folge in M (mit Definitionsbereich ℕ) ist eine Funktion der Form f : ℕ → M.
Notation (Folgennotation)
Wir notieren eine Folge f : ℕ → M in einer Menge M oft als
f = (xn)n ∈ ℕ, mit xn = f (n) für alle n ∈ ℕ.
Einen Wert xn = f (n) nennen wir auch ein Glied der Folge und die Stelle n einen Index. Anstelle von (xn)n ∈ ℕ schreiben wir auch
(x0, x1, x2, …, xn, …) oder x0, x1, x2, …, xn, …
2. Der Grenzwert einer Folge
Definition (Grenzwert, Limes, Konvergenzbedingung)
Sei (xn)n ∈ ℕ eine Folge in ℝ, und sei x ∈ ℝ. Dann heißt x Grenzwert oder Limes der Folge (xn)n ∈ ℕ, falls gilt
∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |x − xn| < ε.(Konvergenzbedingung)
Mit der Konvention
„fast alle“ = „alle bis auf höchstens endlich viele Ausnahmen“
können wir die Konvergenzbedingung so formulieren:
Umformulierung der Konvergenzbedingung
Für alle ε > 0 gilt:
Fast alle Folgenglieder sind Elemente von I(x, ε) = ] x − ε, x + ε [.
Im Fall der Existenz ist ein Grenzwert eindeutig bestimmt. Damit können wir einführen:
Limesnotation
Ist x ∈ ℝ der Grenzwert der Folge (xn)n ∈ ℕ, so schreiben wir
x = limn → ∞ xn oder kurz x = limn xn.
Definition (konvergent, divergent)
Sei (xn)n ∈ ℕ eine Folge in ℝ. Besitzt (xn)n ∈ ℕ einen Grenzwert x ∈ ℝ, so heißt die Folge konvergent. Andernfalls heißt sie divergent.
Definition (Nullfolge)
Gilt limn xn = 0, so nennen wir (xn)n ∈ ℕ auch eine Nullfolge.
Definition (uneigentliche Konvergenz)
Für eine Folge (xn)n ∈ ℕ in ℝ definieren wir
limn xn = ∞ | falls | ∀k > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 xn ≥ k, |
limn xn = −∞ | falls | ∀k > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 xn ≤ −k. |
Gilt limn xn = ± ∞, so nennen wir die Folge (xn)n ∈ ℕ uneigentlich konvergent.
Beispiele
(1) | Es gilt limn ≥ 1 1/n = 0. Die Folge (1/n)n ≥ 1 ist eine Nullfolge. |
(2) | Es gilt limn n = ∞. Die Folge (n)n ∈ ℕ ist uneigentlich konvergent. |
(3) | limn (−1)n existiert nicht. Die Folge ((−1)n)n ∈ ℕ ist beschränkt und divergent. limn (−1)n n existiert nicht. Die Folge ((−1)n n)n ∈ ℕ konvergiert weder eigentlich noch uneigentlich. |
3. Die Limesregeln
Satz (Limesregeln)
Seien (xn)n ∈ ℕund (yn)n ∈ ℕ (xn)n ∈ ℕ konvergente Folgen in ℝ. Dann gilt:
(a) | limn (xn + yn) = limn xn + limn yn, |
(b) | limn (c xn) = c limn xn für alle c ∈ ℝ, |
(c) | limn (xn − yn) = limn xn − limn yn, |
(d) | limn (xn yn) = limn xn limn yn. |
(e) | limn (xnyn) = limn xnlimn yn, falls yn ≠ 0 für alle n und limn yn ≠ 0. |
Beispiele
(1) | Es gelte limn xn = x. Dann gilt limn (xn2) = limn (xn xn) = (limn xn) · (limn xn) = x x = x2. Analoges gilt für höhere Exponenten. |
(2) | Es gilt limn ≥ 1 2 + n3n3 = limn ≥ 1 (2n3 + n3n3) = 2 (limn ≥ 1 1n)3 + limn ≥ 1 1 = 2 · 03 + 1 = 1. |
4. Cauchy-Folgen
Definition (Cauchy-Folge, Cauchy-Bedingung)
Eine Folge (xn)n ∈ ℕ in ℝ heißt Cauchy-Folge, falls gilt
∀ε > 0 ∃n0 ∀n, m ≥ n0 |xn − xm| < ε.(Cauchy-Bedingung)
Diese Bedingung fängt genau die konvergenten Folgen ein:
Satz (Charakterisierung der konvergenten Folgen)
Sei (xn)n ∈ ℕ eine Folge in ℝ. Dann konvergiert die Folge genau dann, wenn sie eine Cauchy-Folge ist. In diesem Fall ist
limn xn = infn supk ≥ n xk = supn infk ≥ n xk.
Konvergenz von Cauchy-Folgen als Axiom
Die Aussage „Jede Cauchy-Folge in ℝ konvergiert.“ wird auch oft als Axiom für die reellen Zahlen verwendet und als (metrisches) Vollständigkeitsaxiom bezeichnet. Zusammen mit dem Archimedischen Axiom ist das metrische Vollständigkeitsaxiom äquivalent zu unserem Vollständigkeitsaxiom.
5. Unendliche Reihen
Definition (Partialsumme, unendliche Reihe, Summe, Wert)
Sei (xn)n ∈ ℕ eine Folge in ℝ. Für alle n ∈ ℕ sei
sn = x0 + … + xn = ∑k ≤ n xk
die n-te Partialsumme der Folge. Wir setzen
∑n ∈ ℕ xn = (sn)n ∈ ℕ
und nennen ∑n ∈ ℕ xn die unendliche Reihe mit den Summanden xn. Im Fall der Konvergenz der Folge der Partialsummen setzen wir zudem
∑n ∈ ℕ xn = limn sn.
Diesen Grenzwert nennen wir die Summe von (xn)n ∈ ℕ oder den Wert der unendlichen Reihe.
Notation
Neben ∑n ∈ ℕ xn verwenden wir gleichwertig auch die Notationen
∑∞n = 0 xn, ∑n ≥ 0 xn, ∑n xn, x0 + x1 + x2 + … + xn + …
Das Summenzeichen hat eine Doppelbedeutung: Für jede Folge (xn)n ∈ ℕ ist die unendliche Reihe ∑n xn definiert als die Folge (sn)n ∈ ℕ der Partialsummen der Folge. Konvergiert die Folge der Partialsummen, so bezeichnet ∑n xn auch den entsprechenden Grenzwert. Die Bedeutung geht aus dem Kontext hervor:
Beispiel
1. Bedeutung: „Die Reihe ∑n 1/2n konvergiert.“
2. Bedeutung: „Es gilt ∑n 1/2n = 1 + 1/2 + 1/4 + … + 1/2n + … = 2.“
1. Bedeutung: „Die Reihe ∑n (−1)n divergiert.“
6. Die geometrische Reihe
Sei q ∈ ℝ. Dann ist die geometrische Reihe für q ∈ ℝ die Reihe
∑n qn = 1 + q + q2 + q3 + …
Aus der für alle q ∈ ℝ gültigen Formel 1 + q + … + qn = (1 − qn + 1)/(1 − q) für die geometrische Summe ergibt sich:
Satz (Konvergenz der geometrischen Reihe)
Sei q ∈ ℝ. Ist |q| < 1, so ist ∑n qn konvergent und es gilt ∑n qn = 1/(1 − q). Ist |q| ≥ 1, so divergiert ∑n qn.
7. Die harmonische Reihe
Die harmonische Reihe ist die Reihe
∑n ≥ 1 1n = 1 + 12 + 13 + 14 + …
Die Partialsummen sn dieser Reihe sind aufgrund der positiven Summanden streng monoton steigend. Das Wachstum ist jedoch sehr langsam. Durch folgende geistreiche Zusammenfassung von Summanden können wir sehen, dass die harmonische Reihe divergiert:
1 + 12 + 13 + 14 + …
= 1 + 12 + (13 + 14) + (15 + … + 18) + (19 + … + 116) + …
≥ 12 + 12 + 12 + … = ∞.
Die harmonische Reihe zeigt:
Eine Nullfolge positiver Summanden kann eine unendliche Summe besitzen.
Man kann zeigen, dass die Folge der Partialsummen sn = 1 + … + 1/n der harmonischen Reihe bis auf eine Konstante so wächst wie der natürliche Logarithmus. Es gilt
limn (sn − log(n)) = γ = 0,57721… (Euler-Mascheroni-Konstante)
8. Konvergenzkriterien für Reihen
Satz (Leibniz-Kriterium für alternierende Reihen)
Sei (xn)n ∈ ℕ eine monoton fallende Nullfolge. Dann konvergiert
∑n (−1)n xn = x0 − x1 + x2 − x3 + …
Der Beweis besteht in der Beobachtung, dass die Partialsummen
sn = ∑k ≤ n (−1)k xk
eine konvergente (in x0 rechtsstartende) Pendelfolge bilden.
Satz (Majoranten-Kriterium)
Sei ∑n yn eine konvergente Reihe positiver reeller Zahlen. Weiter sei (xn)n ∈ ℕ eine Folge in ℝ mit |xn| ≤ yn für alle n. Dann konvergiert ∑n xn.
Zum Beweis zeigt man, dass die Partialsummen der Folge (xn)n ∈ ℕ eine Cauchy-Folge bilden. Gelten die Voraussetzungen des Satzes, so sagen wir auch, dass die Reihe ∑n xn durch die konvergente Reihe ∑n yn majorisiert wird.
Das Majorantenkriterium führt im Zusammenspiel mit der geometrischen Reihe zu:
Satz (Quotienten-Kriterium)
Sei ∑n xn eine unendliche Reihe mit xn ≠ 0 für alle n ∈ ℕ. Es gebe ein q ∈ ] 0, 1 [ mit der Eigenschaft
|xn + 1xn| ≤ q für alle n ∈ ℕ.
Dann konvergiert ∑n xn.
Beweis
Sei q wie im Satz. Dann gilt
|x1| ≤ q |x0|, |x2| ≤ q |x1| ≤ q2 |x0|, …
Induktiv ergibt sich
|xn| ≤ |x0| qn für alle n ∈ ℕ.
Damit wird die Reihe ∑n xn durch die (wegen q < 1 konvergente) skalierte geometrische Reihe | x0 | ∑n qn majorisiert.
Warnung
Im Quotientenkriterium ist es wichtig, dass die obere Schranke q der Quotienten kleiner als 1 ist. Es genügt nicht, dass alle Quotienten kleiner als 1 sind.
Gültigkeit ab einer Stelle im Quotienten-Kriterium
Da die Konvergenz einer unendlichen Reihe nicht von endlich vielen Summanden abhängt, genügt es im Majoranten- und Quotientenkriterium, wenn die Bedingungen ab einer Stelle n0 gelten, also zum Beispiel
|xn + 1xn| ≤ 910 für alle n ≥ 5
erfüllt ist.
Die vielleicht wichtigste Anwendung des Quotientenkriteriums ist:
Konvergenz der Exponentialreihe
Sei x ∈ ℝ beliebig. Wir betrachten die Exponentialreihe
∑n xnn! = 1 + x + x22 + x33! + …
Sei nun n0 eine natürliche Zahl mit n0 ≥ 2|x|. Dann gilt
|xn + 1/(n + 1)!xn/n!| = |x|n + 1 ≤ 12 für alle n ≥ n0.
Damit konvergiert die Exponentialreihe für x nach dem Quotientenkriterium.