17. Vorlesung Der Fundamentalsatz der Algebra

1. Komplexe Polynome

Definition (komplexes Polynom)

Seien a0, …, an  ∈  . Dann heißt die Funktion f :    mit

f (z)  =  an zn  +  an − 1 zn − 1  +  …  +  a0  für alle z  ∈ 

das (komplexe) Polynom oder die (komplexe) Polynomfunktion mit den Koeffizienten a0, …, an.

 Genau wie für  wird der Grad deg(f) eines komplexen Polynoms erklärt. Auch die Definitionen der Begriffe Leitkoeffizient, normiert, Nullpolynom, konstantes Polynom, Nullstelle können übernommen werden.

2. Der Fundamentalsatz der Algebra

Satz (Fundamentalsatz der Algebra)

Seien a0, …, an  ∈   mit n ≥ 1 und an ≠ 0. Weiter sei f :    mit

f (z)  =  anzn  +  …  +  a1z  +  a0  für alle z  ∈ 

das zugehörige komplexe Polynom. Dann gibt es (nicht notwendig paarweise verschiedene) w1, …, wn  ∈   mit

f (z)  =  an (z − w1) · (z − w2) · … · (z − wn)  für alle z  ∈  .

Kurz: Jedes komplexe Polynom zerfällt in Linearfaktoren. Alternativ können wir den Fundamentalsatz auch so formulieren:

Jedes komplexe Polynom vom Grad größergleich 1 besitzt mindestens eine Nullstelle.

Weiß man dies, so gewinnt man durch wiederholtes Abspalten von Linearfaktoren den Satz in der obigen Version. Schließlich können wir anstelle eines Polynoms auch eine algebraische Gleichung an zn + an − 1 zn − 1 + … + a0 = 0 mit komplexen Koeffizienten ak betrachten:

Satz (Fundamentalsatz der Algebra, Version für algebraische Gleichungen)

Sei anzn + … + a1z + a0 = 0 eine algebraische Gleichung mit Koeffizienten a0, …, an  ∈  , an ≠ 0, n ≥ 1. Dann gibt es w1, …, wn  ∈   mit

anzn  +  …  +  a1z  +  a0  =  an (z − w1) · (z − w2) · … · (z − wn).

Die Gleichung hat also genau die komplexen (nicht notwendig paarweise verschiedenen) komplexen Lösungen w1, …, wn.

3. Komplexe Quadratwurzeln

Definition (komplexe Quadratwurzel)

Sei u  ∈  . Eine komplexe Zahl w heißt eine komplexe Quadratwurzel von u, falls w2 = u gilt.

 Mit w ist immer auch −w eine komplexe Quadratwurzel von u. Zum Beispiel hat −1 die komplexen Quadratwurzeln i und −i.

Satz (komplexe Quadratwurzeln in Polarkoordinaten)

Sei u  ∈  , und sei u = (r, φ) in Polarkoordinaten. Dann sind

w  =  (r, φ/2)  und  −w  =  (r, φ/2 + π)

die in Polarkoordinaten dargestellten komplexen Quadratwurzeln von u.

 Kartesisch ist w = r (cos φ/2, sinφ/2). Nach den Halbwinkelformeln für den Kosinus und Sinus ist

r cos2(φ/2)  =  r  +  r cos φ2,  r sin2(φ/2)  =  r  −  r cos φ2.

Wegen r cos φ = Re(u) erhalten wir

Re(w)2  =  r cos2(φ/2)  =  r  +  Re(u)2,  Im(w)2  =  r sin2(φ/2)  =  r  −  Re(u)2.

Die Werte cos(φ/2) und sin(φ/2) haben genau dann verschiedene Vorzeichen, wenn Im(u) < 0. Damit erhalten wir:

Satz (komplexe Quadratwurzeln in kartesischen Koordinaten)

Sei u  ∈  . Weiter seien r = |u| und

σ=1falls Im(u)0,1falls Im(u)<0.

Dann sind die komplexen Quadratwurzeln von u gegeben durch

w1/2  =  ± (r+Re(u)2,  σ rRe(u)2)

 Die Mitternachtsformel gilt auch für die komplexen Zahlen. Eine Gleichung a z2 + b z + c = 0 zweiten Grades in  hat die komplexen Lösungen

w1,2  =  b±b24ac2a,(Mitternachtsformel für )

wobei wir unter der Wurzel irgendeine der beiden komplexen Quadratwurzeln von u = b2 − 4ac verstehen.

4. Die komplexen Einheitswurzeln

Definition (n-te Einheitswurzel)

Sei n ≥ 1. Dann heißt ein w  ∈   eine n-te Einheitswurzel, falls wn = 1.

 Schreiben wir ein w  ∈   in Polarkoordinaten (r, φ), so ist wn = (rn, nφ). Damit gilt wn = (1, 0) genau dann, wenn eine ganze Zahl k existiert mit

(rn, nφ)  =  (1, k2π).

Damit sind genau die komplexen Zahlen

wk  =  (1, k2π/n)  für alle k  ∈ 

n-te Einheitswurzeln. Beschränken wir k auf 0, …, n − 1, so erhalten wir alle paarweise verschiedenen Wurzeln. Damit haben wir gezeigt:

Satz (n-te Einheitswurzeln)

Sei n ≥ 1. Dann sind für k = 0, …, n − 1 die komplexen Zahlen

wk  =  (1, k2π/n) in Polarkoordinaten,
wk  =  (cos(k 2π/n), sin(k 2π/n)) in kartesischen Koordinaten

alle n-ten Einheitswurzeln. Sie bilden das regelmäßige in den Einheitskreis einbeschriebene n-Eck, dem der Punkt w0 = 1 = (1, 0) angehört.

 Traditionell werden die komplexen Einheitswurzeln mit dem griechischen Buchstaben Zeta bezeichnet. Wir setzen also

ζnk  =  (cos (k 2πn),  sin (k 2πn))  für alle n ≥ 1 und k  ∈  .

5. Das Pentagon

 Als Anwendung der komplexen Einheitswurzeln analysieren wir das regelmäßige Fünfeck (Pentagon). Sei hierzu

z  =  ζ51  =  (cos(2π/5), sin(2π/5)).

Dann sind 1,  z,  z2,  z3,  z4 die Ecken des regelmäßigen in den Einheitskreis einbeschriebenen Fünfecks, dem der Punkt (1, 0) angehört. Aus der auch in  gülitgen geometrischen Summenformel und z5 = 1 folgt

(+)  1  +  z  +  z2  +  z3  +  z4  =  1 − z51 − z  =  0.

Wir setzen w = z + z4. Dann gilt

w  =  z  +  z4  =  z  +  z−1  =  z  +  z  =  2 Re(z)  =  2 cos(2π/5)  >  0,

w2 + w − 1  =  z2 + 2zz4 + z8 + z + z4 − 1  =  1 + z + z2 + z3 + z4  =  0.

Die Mitternachtsformel liefert wegen w > 0, dass w = (5 − 1)/2, d. h. w ist das Inverse des goldenen Schnitts (1 + 5)/2. Wegen w = 2 Re(z) erhalten wir

cos(2π/5)  =  514.

Da sich der Punkt P = ((5 − 1)/4, 0) und damit ζ1 geometrisch mit Zirkel und Lineal konstruieren lässt, haben wir gezeigt, dass Re(z) und damit z und in der Folge auch das ganze regelmäßige Pentagon mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist. Dies ist keineswegs klar. Ein regelmäßiges Siebeneck kann zum Beispiel nicht mehr mit Hilfe von Zirkel und Lineal konstruiert werden. Der Wert cos(2π/7) lässt sich im Gegensatz zu cos(2π/5) nicht mehr als Wurzelausdruck schreiben.

6. Ein anschaulicher Beweis des Fundamantalsatzes

 Sei f :   ,

f (z)  =  zn  +  an − 1 zn − 1  +  …  +  a1 z  +  a0  für alle z  ∈  ,

ein normiertes komplexes Polynom n-ten Grades. Die Nullstellen von f sind die gemeinsamen Nullstellen der reellwertigen Funktionen Re(f (z)) und Im(f (z)). Wir setzen

An  =  { z  ∈   | Re(zn)  =  0 },  Bn  =  { z  ∈   | Im(zn)  =  0 }.

Diese Mengen bestehen aus n Geraden durch den Nullpunkt, die 2n unendliche Kreissektoren mit dem Winkel π/n definieren. Der Menge Bn gehört die x-Achse an, An entsteht aus Bn durch eine Drehung um den halben Winkel π/(2n) eines Sektors. Die Geraden, aus denen An und Bn bestehen, wechseln sich ab.

 Für komplexe Zahlen z mit einem sehr großen Betrag r = |z| ist f (z) ungefähr gleich zn, da der Leitterm zn das Polynom dominiert. Damit haben die Mengen

Af  =  { z  ∈   | Re(f (z))  =  0 },  Bf  =  { z  ∈   | Im(f (z))  =  0 }

außerhalb eines Kreises K mit dem Mittelpunkt 0 und einem hinreichend großen Radius r recht genau die sternförmige Gestalt der Mengen An und Bn. Innerhalb des Kreises K verlaufen die Linien von Af und Bf nicht mehr geradlinig wie in An und Bn, aber ein Schnittpunkt von Af und K wird aus Stetigkeitsgründen mit einem weiteren solchen Schnittpunkt verbunden. Gleiches gilt für Bf. Da sich nun die Schnittpunkte von Af und K mit den Schnittpunkten von Bf und K abwechseln, müssen sich die betrachteten Verbindungslinien innerhalb von K schneiden. Jeder solche Schnittpunkt ist eine Nullstelle von f. Da es je 2n Schnittpunkte für Af und Bf mit K gibt, erhalten wir genau n (nicht notwendig paarweise verschiedene) Nullstellen von f.