18. Vorlesung Die komplexe Exponentialfunktion

1. Analytische Begriffe für komplexe Zahlen

 Den Limes limn zn = z einer Folge (zn)n ∈  komplexer Zahlen können wir wie in  definieren durch

∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |z − zn| < ε  (mit ε  ∈   wie bisher).

Die Konvergenz von (zn)n ∈  gegen z bedeutet, dass für jedes ε > 0 fast alle (alle bis auf höchstens endlich viele) Folgenglieder in der offenen ε-Umgebung

Uε(z)  =  { w  ∈   | |z − w| < ε }

von z liegen. Jeder Kreis um z fängt die Folge die schließlich ein.

 Aus dem Konvergenzbegriff für Folgen ergibt sich der Konvergenzbegriff für unendliche Reihen in : Im Fall der Existenz ist

n zn  =  z0 + … + zn + …  =  limn sn,  wobei  sn  =  z0 + … + zn

wieder die n-te Partialsumme der Folge (zn)n ∈  in  ist.

 Der Grenzwert

lim p f (z)  =  a

ist für eine Funktion f :   , eine Stelle p  ∈   und ein a  ∈   definiert durch

∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀w  ∈   (|w − p| < δ    |f (w) − a| < ε)  (mit ε, δ  ∈   wie bisher).

Gilt lim p f (z) = f (p), so nennen wir wieder f stetig an der Stelle p. In der ε-δ-Formulierung lautet die Stetigkeit von f an der Stelle p:

∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀w  ∈   (|w − p| < δ    |f (w) − f (p)| < ε).

Gleichwertig kann die Stetigkeit wieder als Folgenstetigkeit formulieren werden:

Für alle Folgen (zn)n ∈  in  mit limn zn = p gilt limn f (zn) = f (p).

Diese Definitionen lassen sich an Funktionen f : P   anpassen, die nur auf einer gewissen Teilmenge P der komplexen Zahlenebene definiert sind.

 Differentialquotienten können ebenfalls unverändert ins Komplexe übertragen werden: Für f : P   und p  ∈  P heißt im Fall der Existenz

f ′(p)  =  lim p f (z) − f (p)z − p  ∈ 

die Ableitung von f an der Stelle p. Die üblichen Notationen werden übernommen. Wie in  gilt zum Beispiel

ddz zn  =  n zn − 1.

2. Die komplexe Expoentialfunktion

Definition (komplexe Exponentialfunktion)

Die komplexe Exponentialfunktion exp :    ist die eindeutige Funktion f :    mit

(a)

f ′  =  f,

(b)

f (0)  =  1.

Wie für die reelle Expoentialfunktion folgt hieraus das Additionstheorem

exp(z + w)  =  exp(z) exp(w)  für alle z, w  ∈  ,

welches die Notation ez für exp(z) motiviert. Für alle z  ∈   gilt die Reihendarstellung

exp(z)  =  n znn!  =  1 + z + z22 + … + znn! + …(komplexe Exponentialreihe)

Die Konvergenz der Exponentialreihe kann wie im Reellen mit Hilfe des Quotientenkriteriums bewiesen werden.

3. Die Eulersche Formel

Satz (Kreisaufwicklung, Eulersche Formel)

Für alle x  ∈   gilt

exp(i x)  =  (cos x, sin x)  =  cos(x)  +  i sin(x).(Eulersche Formel)

Beweis 1: Potenzreihenentwicklung

Für alle x  ∈   gilt unter Verwendung der Potenzreihenentwicklungen des Kosinus und Sinus:

ei x =  n (ix)nn!  =  1  +  i x  +  i2 x22  +  …  +  in xnn!  +  …
=  1  +  i x  −  x22  −  i x33!  +  x44!  +  i x55!x  −  x66!  −  i 737!  +  …
=  n (−1)n x2n(2n)!  +  i n (−1)nx2n + 1(2n + 1)!
=  cos x  +  i sin x.
Beweis 2: Ableiten

Wir wissen bereits, dass eix für alle x  ∈   auf dem Einheitskreis liegt. Damit gibt es für alle x  ∈   ein φ(x)  ∈   mit

(+)  eix  =  (cos φ(x), sin φ(x))  =  cos φ(x)  +  i sin φ(x).

Dann gilt (unter Verwendung der auch in  gültigen elementaren Ableitungsregeln):

− sin φ(x)  +  i cos φ(x) =  i eix  =  ddx eix  =  ddx (cos φ(x) + i sin(φ(x))
=  − sin φ(x) φ′(x)  +  i cosφ(x) φ′(x)
=  (−sin φ(x)  +  i cosφ(x)) φ′(x).

Damit ist φ′(x) = 1 für alle x  ∈  . Folglich gibt es ein c  ∈   mit φ(x) = x + c für alle x  ∈  . Speziell ist φ(0) = c. Nach (+) gilt für x = 0

1  =  ei0  =  cos c  +  i sin c,

sodass c ein ganzzahliges Vielfaches von 2π ist. Sei also k  ∈   mit c = k2π. Dann gilt für alle x  ∈  :

eix  =  cos φ(x)  +  i sin φ(x)  =  cos(x + k2π)  +  i sin(x + k2π)  =  cos x + i sin x.

 Für x = π ergibt sich:

Korollar (Eulersche Identität)

ei π + 1  =  0.

Damit sind die fünf fundamentalen mathematischen Größen 0, 1, i, π und e in einer Aussage vereint.

Korollar (Periodizität)

Für alle z  ∈   und k  ∈   gilt exp(z + i k2π)  =  exp(z).

Beweis

exp(z + i k 2π)  =  exp(z) exp(i k 2π)  =  exp(z) exp(i 2π)k  =  exp(z) 1k  =  exp(z).

 Aufgrund ihrer Periodizität ist die komplexe Exponentialfunktion durch ihre Werte auf dem Streifen  × [ 0, 2π [ bestimmt. Die Funktion wiederholt sich, wenn wir mehrere derartige Streifen übereinander oder untereinander legen.

4. Die Abbildungsdynamik der komplexen Expoentialfunktion

 Aus exp(x + iy) = exp(x) exp(i y) = exp(x)(cos(y) + i sin(y)) erhalten wir:

Anschauliche Beschreibung der komplexen Exponentialfunktion

Sei p  ∈   ein Punkt der Ebene, und sei exp(p)  ∈   sein Bild unter der komplexen Exponentialfunktion. Bewegen wir uns, in p startend, in der Variablen z parallel zur x-Achse, so bewegt sich exp(z) auf der Halbgeraden, die von 0 durch exp(p) führt. Dabei erreicht exp(z) bei einer Bewegung nach links nie die Null, entfernt sich dagegen bei einer Bewegung nach rechts mit exponentieller Geschwindigkeit. Bewegen wir uns in p startend in der Variablen z parallel zur y-Achse, so dreht sich f (z) auf dem Kreis mit Radius r = |f (p)| durch den Nullpunkt. Die Kreisbewegung erfolgt gegen den Uhrzeigersinn bei einer Bewegung nach oben und im Uhrzeigersinn bei einer Bewegung nach unten. Ein Kreisdurchlauf von f (z) der Länge 2rπ benötigt das Durchlaufen eines Intervalls der Länge 2π in z.

5. Anwendung: Die Additionstheoreme

 Zu den bestechendsten Anwendungen der Eulerschen Formel gehört die simultane Herleitung der Additionstheoreme für den Kosinus und Sinus. Für alle x, y  ∈   gilt:

cos(x + y) + i sin(x + y) =  ei (x + y)  =  ei x + i y  =  ei x ei y
=  (cos x + i sin x) (cos y + i sin y)
=  cos x cos y − sin x sin y  +  i (cos x sin y + cos y sin x)

Vergleich von Real- und Imaginärteil liefert

cos(x + y)  =  cos x cos y − sin x sin y,  sin(x + y)  =  cos x sin y + cos y sin x.

6. Anwendung: Einheitswurzeln

 Sei n ≥ 1, und seien wieder

ζnk  =  (cos (k 2πn),  sin (k 2πn))  für k  ∈  ,

sodass ζn0, …, ζnn − 1 die n-ten Einheitswurzeln sind. Dann gilt

ζnk  =  ei k 2π/n  für alle k  ∈  .

Durch diese Darstellung wird das Rechnen mit den Einheitswurzeln vereinfacht. So gilt zum Beispiel für alle ganzzahligen k und m

ζnk ζnm  =  exp(ik 2π/n) exp(im 2π/n)  =  exp(i (k + m) 2π/n)  =  ζnk + m.

7. Anwendung: Reihenentwicklungen für Kosinus und Sinus

 Kennt man die komplexe Exponentialreihe, so lassen sich die Reihenentwicklungen des Kosinus und Sinus leicht reproduzieren:

cos x + i sin x =  ei x  =  n (ix)nn!  = 
=  1  +  i x  −  x22  −  i x33!  +  x44!  +  i x55!x  −  x66!  −  i 737!  +  …
=  n (−1)nx2n(2n)!  +  i n (−1)nx2n + 1(2n + 1)!.

8. Anwendung:  Ableitungen des Kosinus und Sinus

 Die Ableitungen des Kosinus und Sinus lassen sich ebenfalls mit der Eulerschen Formel reproduzieren:

cos′ x  +  i sin′ x =  ddx (cos x + i sin x)  =  ddx eix  =  i eix  =
=  i (cos x + i sin x)  =  −sin x  +  i cos x.

Vergleich von Real- und Imaginärteil ergibt cos′ = − sin und sin′ = cos.

Bemerkung

Es ist möglich, die komplexe Exponentialfunktion bei einem Aufbau der Analysis an die Spitze zu stellen und die trigonometrischen Funktionen durch

cos(x)  =  Re(eix),  sin(x)  =  Im(eix)  für alle x  ∈ 

zu definieren. Bei diesem Vorgehen lassen sich die Additionstheoreme, die Reihenentwicklungen und die Ableitungen des Kosinus und Sinus mit obigen Argumenten beweisen. Weiter ergibt sich eine analytische Definition von π, indem π/2 als die erste positive Nullstelle des Kosinus oder alternativ 2π als die Periode von exp festlegt wird. Dann ist aber zu zeigen, dass die analytische Größe π mit der geometrischen Größe π übereinstimmt. Allgemeiner muss die Längentreue der Kreisaufwicklung nachgewiesen werden, die bei diesem Ansatz keineswegs klar ist.