20. Vorlesung Die Euklidische Ebene

1. Die Winkelformel

Definition (eingeschlossener Winkel)

Seien v, w  ∈  2 mit v, w ≠ 0. Dann setzen wir

(v, w)  =  „der von v und w eingeschlossene Winkel in [ 0, π ]“.

Satz (Winkelformel)

Seien v, w  ∈  2 von 0 verschieden, und sei φ = ∡(v, w). Dann gilt:

cos φ  =  〈 v̂, ŵ 〉  =  〈 v, w 〉∥v∥ ∥w∥,  φ  =  arccos(〈 v̂, ŵ 〉).(Winkelformel)

Beweis mit Hilfe des Kosinussatzes

Seien v, w  ∈  2 mit v, w ≠ 0. In einem Dreieck ABC mit Seiten a, b, c und Winkeln α, β, γ gilt:

a2  =  b2  +  c2  −  2 cos(α) b c.(Kosinussatz)

Für das Dreieck mit den Ecken A = 0, B = w und C = v gilt

(i)

a  =  ∥ v − w ∥,  b  =  ∥v∥,  c  =  ∥w∥,

(ii)

α  =  ∡(v, w)  =  φ.

Der Kosinussatz für dieses Dreieck liest sich nun in der Form

(1)  ∥ v − w ∥2  =  ∥v∥2  +  ∥w∥2  −  2 cos(α) ∥v∥ ∥w∥.

Nach der zweiten binomischen Formel für das Skalarprodukt gilt aber

(2)  ∥ v − w ∥2  =  ∥v∥2  +  ∥w∥2  −  2 〈 v, w 〉.

Durch Vergleich von (1) und (2) erhalten wir cos(φ) ∥v∥ ∥w∥  =  〈 v, w 〉.

Beweis mit Hilfe des Additionstheorems für den Kosinus

Seien v, w  ∈  2 mit v, w ≠ 0. Wir dürfen annehmen (nach evtl. Vertauschung von v und w), dass es x1, y1, x2, y2, φ1, φ2  ∈   gibt mit

(i)

v̂  =  (x1, y1)  =  (cos φ1, sin φ1),

(ii)

ŵ  =  (x2, y2)  =  (cos φ2, sin φ2),

(iii)

φ1  ≤  φ2  ≤  φ1 + π.

Dann ist φ = φ2 − φ1 = ∡(v, w). Nach dem Additionstheorem für den Kosinus gilt

cos φ =  cos2 − φ1)  =  cos φ2 cos φ1  −  sin φ2 sin (−φ1)
=  cos φ1 cos φ2  +  sin φ1 sin φ2  =  x1 x2  +  y1 y2  =  〈 v̂, ŵ 〉.

2. Orthogonalität und Kollinearität

Definition (orthogonal, aufeinander senkrecht stehen)

Seien v, w  ∈  2. Wir sagen, dass v und w orthogonal sind oder aufeinander senkrecht stehen, falls 〈 v, w 〉 = 0.

Definition (kollinear, parallel, antiparallel)

Seien v, w  ∈  2. Wir sagen, v und w sind

kollinear, falls |〈 v, w 〉|  =  ∥v∥ ∥w∥,
parallel, falls 〈 v, w 〉  =  ∥v∥ ∥w∥,
antiparallel, falls 〈 v, w 〉  =  − ∥v∥ ∥w∥.
Definition (orthogonale Projektion)

Wir setzen für alle u, v  ∈  2:

pru(v)  =  〈 û, v 〉 û.(Projektionsformel)

Der Vektor pru(v)  ∈  2 heißt die (orthogonale) Projektion des Vektors v auf den Vektor u.

 Die Vektoren u und pru(v) sind nach Definition kollinear. Die Bezeichnung als orthogonale Projektion wird dadurch erklärt, dass pru(v) und w = v − pru(v) aufeinander senkrecht stehen:

〈 pru(v), w 〉 =  〈 pru(v), v 〉  −  〈 pru(v), pru(v) 〉
=  〈 〈 û, v 〉 û, v 〉  −  〈 〈 û, v 〉 û, 〈 û, v 〉 û 〉
=  〈 û, v 〉 〈 û, v 〉  −  〈 û, v 〉 〈 û, v 〉 〈 û, û 〉
=  〈 û, v 〉2  −  〈 û, v 〉2  =  0.

 Als Merkhilfe kann man verwenden:

Zur Struktur der Projektionsformel

(1)

Die Projektion von v auf u ist unabhängig von der Länge von u und damit ein skalares Vielfaches von û.

(2)

Die Projektion von λv auf u ist das λ-fache der Projektion von v auf u.

3. Determinanten

Definition (aufgespanntes Parallelogramm)

Seien v, w  ∈  2. Dann heißt die Menge

P  =  { λ v + μ w | λ, μ  ∈  [ 0, 1 ] }  ⊆  2

das von v und w aufgespannte Parallelogramm.

Definition (Orientierung eines Vektorpaars)

Seien v, w  ∈  2 nicht kollinear, und sei v = rotπ/2(v) = (− v2, v1). Weiter sei ψ = ∡(v, w). Dann heißt (v, w) positiv orientiert, wenn ψ  ∈  [ 0, π/2 [ , und negativ orientiert, wenn ψ  ∈  ] π/2, π ].

 Wir berechnen nun die orientierte Fläche A des von zwei Vektoren v, w aufgespannten Parallelogramms, wobei das Vorzeichen von A der Orientierung des Vektorpaars entsprechen soll. Wir betrachten s = ∥v∥ als Grundseite von P. Dann berechnet sich die signierte Höhe von P zu

h  =  cos ψ ∥w∥,  wobei ψ = ∡(v, w)  ∈  [ 0, π ] mit v = rotπ/2(v) = (−v2, v1).

Wegen ∥ v ∥ = ∥v∥ ist

A  =  s h  =  ∥v∥ cos ψ ∥w∥  =  〈 v, w 〉  =  〈 (−v2, v1), (w1, w2) 〉  =  v1 w2 − v2 w1.

Definition (Determinante)

Seien v, w  ∈  2. Dann heißt die reelle Zahl det(v, w) = v1 w2 − v2 w1 die Determinante des Vektorenpaars (v, w).

Notation

Wir notieren die Determinante auch in Matrix-Schreibweise in der Form

det x1x2y1y2  statt  det((x1, y1), (x2, y2)).

Satz (Eigenschaften der Determinante)

Für alle v, w, v1, v2, w1, w2  ∈  2 und alle λ  ∈   gilt:

(i)

det(e1, e2)  =  1,

(ii)

det(v, v)  =  0,

(iii)

det(v, w)  =  − det(w, v),

(iv)

det(λ v, w)  =  det(v, λ w)  =  λ det(v, w),

(v)

det(v1 + v2, w)  =  det(v1, w) + det(v2, w),

det(v, w1 + w2)  =  det(v, w1) + det(v, w2).

4. Linearkombinationen und Koordinatenvektoren

Definition (Spann, Linearkombination)

Seien v, w  ∈  2. Dann heißt

span(v, w)  =  { λ v  +  μ w | λ, μ  ∈   }

der Spann von v und w. Für alle λ, μ  ∈   heißt der Vektor λ v + μ w eine Linearkombination von v und w.

Definition (Koordinaten, Koordinatenvektor)

Seien v, w  ∈  2 nicht kollinear, u  ∈  2 und λ, μ  ∈   mit

u  =  λ v + μ w.

Dann heißen λ, μ die Koordinaten von u bzgl. v, w. Wir nennen (λ, μ)  ∈  2 auch den Koordinatenvektor des Vektors u bzgl. der Basis (v, w).

5. Lineare Gleichungssysteme

 Wir betrachten reelle lineare Gleichungssysteme mit zwei Gleichungen und zwei Unbekannten (oder Unbestimmten). Ein solches System hat die Form

(+)  a x  +  b y  =  u1
c x  +  d y  =  u2

mit

Koeffizienten a, b, c, d  ∈  ,
Unbekannten x, y  ∈  ,
rechter Seite u = (u1, u2)  ∈  2,
Lösungsmenge L = { (x, y)  ∈  2 | a x + b y = u1,  c x + d y = u2 }.

Ist L ≠ ∅, so heißt das System (+) lösbar. Andernfalls heißt es unlösbar. Besitzt die Menge L genau ein Element, so heißt das System eindeutig lösbar. Weiter heißt

abcd

die Koeffizienten-Matrix des Systems.

 Wir notieren Vektoren (v1, v2) der Ebene oft als Spaltenvektoren, d. h.

(v1, v2)  =  v1v2.

Damit können wir ein Gleichungssystem (+) schreiben als

(++)  x ac +  y bd  =  u1u2  =  u.

6. Die Struktur der Lösungsmenge

Definition (homogen, inhomogen)

Ist die rechte Seite u = (u1, u2) eines Gleichungssystems der Nullvektor, so nennen wir das System homogen. Andernfalls heißt es inhomogen.

 Jedem System

(1)  a x  +  b y  =  u1
c x  +  d y  =  u2

können wir das homogene System

(2)  a x  +  b y  =  0
c x  +  d y  =  0

zuordnen. Ist L die Lösungsmenge von (1), (x*, y*)  ∈  L beliebig und L0 die Lösungsmenge des zugeordneten homogenen Systems (2), so gilt:

L  =  (x*, y*)  +  L0  =  { (x*, y*) + (x, y) | (x, y)  ∈  L0 }.

Insgesamt gilt:

Lösung = spezielle Lösung + homogene Lösung

Die Lösungsmenge L eines Systems ergibt sich durch Finden einer beliebigen Lösung v* und der Lösungsmenge L0 des zugehörigen homogenen Systems. Es gilt dann L = v* + L0.

Struktur der Lösungsmenge eines linearen Gleichungssystems

Für die Lösungsmenge L eines linearen Gleichungssystems mit zwei Gleichungen und zwei Unbekannten sind folgende Fälle möglich:

1. Fall: Die Determinante der Koeffizientenmatrix ist von Null verschieden

In diesem Fall besitzt L genau ein Element. Die eindeutige Lösung ist genau dann der Nullvektor, wenn das System homogen ist.

2. Fall: Die Determinante der Koeffizientenmatrix ist gleich Null

In diesem Fall gilt genau eine der folgenden Aussagen:

(a)

L ist leer. Das System ist notwendig inhomogen.

(b)

L ist eine affine Gerade, d. h. eine um einen Vektor verschobene Gerade durch den Nullpunkt. Diese Gerade verläuft genau dann durch Null, wenn das System homogen ist.

(c)

L ist die gesamte Ebene. Dies ist genau dann der Fall, wenn alle Koeffizienten gleich Null sind.