28. Vorlesung Mehrdimensionale Integration

1. Mehrdimensionale Integrale

 In Analogie zum Riemann-Integral I(f) einer reellen integrierbaren Funktion f : [ a, b ]   lässt sich ein Riemann-Integral für Funktionen des Typs f : P   mit P ⊆ n, P = [ a1, b1 ] × … × [ an, bn ], einführen. Hierzu werden die Begriffe der Partition und der Riemann-Summe verallgemeinert. Das Integral wird dann im Fall der Existenz des Grenzwerts definiert durch

I(f)  =  limδ(p)  0 p f   ∈   .

Es zeigt sich, dass wir das Integral in vielen Fällen durch n hintereinander ausgeführte eindimensionale Integrale berechnen können. Wir definieren hierzu:

Definition (schnittweise integrierbar)

Eine Funktion f : [ a, b ] × [ c, d ]   heißt schnittweise integrierbar, wenn für alle x  ∈  [ a, b ] die Funktion fx : [ c, d ]  , fx(y) = f(x, y), und für alle y  ∈  [ c, d ] die Funktion fy : [ a, b ]  , fy(x) = f(x, y), integrierbar ist.

Analog wird der Begriff für höhere Dimensionen erklärt.

 Ist y  ∈  [ c, d ], so erhalten wir die reelle Funktion fy : [ a, b ]  , indem wir den dreidimensionalen Graphen von f mit der Ebene Ey =  × { y } ×  schneiden und diesen Schnitt als Funktion auf [ a, b ] lesen. Analoges gilt für die Schnitte fx.

 Man kann zeigen, dass jede stetige Funktion schnittweise integrierbar ist. Weiter gilt:

Satz (Berechnung als Mehrfachintegral)

Sei f : [ a, b ] × [ c, d ]   schnittweise integrierbar. Dann gilt

I(f)  =  dcbaf(x, y) dx dy  =  badcf(x, y) dy dx.

Eine analoge Aussage gilt für höhere Dimensionen.

Beispiel

Sei f : [ 0, 1 ] × [ 0, 2 ]   definiert durch

f(x, y)  =  x2y3  für alle (x, y)  ∈  [ 0, 1 ] × [ 0, 2 ].

Dann gilt

I(f)  =  2010 x2y/3 dx dy  =  20 x3yx=0x=1 dy  =  20 y dy  =  2.

Mit der anderen Integrationsreihenfolge ergibt sich

I(f)  =  1020 x2y/3 dy dx  =  10 x2y2/6y=0y=2 dx  =  10 2x2/3 dy  =  2.

2. Das Cavalierische Prinzip

 Viele Volumenberechnungen werden einfacher, wenn wir Flächeninhalte der Schnitte der Menge mit achsenparallelen Ebenen aufintegrieren. Für jede Menge A ⊆ 3 und alle x, y, z  ∈   setzen wir

S1(A, x)  =  { (y, z)  ∈  2 | (x, y, z)  ∈  A },(x-Schnitt)

S2(A, y)  =  { (x, z)  ∈  2 | (x, y, z)  ∈  A },(y-Schnitt)

S3(A, z)  =  { (x, y)  ∈  2 | (x, y, z)  ∈  A }.(z-Schnitt)

Cavalierisches Prinzip

Seien A, B Teilmengen des 3 mit den Volumina V(A) bzw. V(B). Für alle x  ∈   gelte, dass die x-Schnitte von A und B denselben Flächeninhalt besitzen. Dann gilt V(A) = V(B). Eine analoge Aussage gilt, wenn die Flächeninhalte aller y- bzw. z-Schnitte übereinstimmen.

Beispiel: Kugelvolumen

Sei r ≥ 0, und sei K = { (x, y, z)  ∈  3 | x2 + y2 + z2  ≤  r2 }  ⊆  3 die Vollkugel im 3 mit Radius r und Mittelpunkt 0. Der x-Schnitt

S1(K, x)  =  { (y, z)  ∈  2 | y2 + z2  ≤  r2 − x2 }

der Kugel K ist für jedes x  ∈  [ −r, r ] ein Vollkreis mit Radius

rx  =  r2x2

und Flächeninhalt (r2 − x2)π. Integrieren wir diese Flächeninhalte von −r bis r, so erhalten wir das Kugelvolumen

r−r (r2 − x2)π dx  =  ( 2 r3  −  2 r33) π  =  43r3 π.

Beispiel: Volumen eines Torus

Seien R ≥ r > 0, und sei T der Torus mit den Radien R und r:

T  =  { (x, y, z)  ∈  3  |  Rx2+y22 + z2  ≤  r2 }.

Der Torus T entsteht, wenn wenn wir den in der x-z-Ebene liegenden Kreis mit Mittelpunkt (R, 0, 0) und Radius r um die z-Achse rotieren. Für alle z  ∈  [ −r, r ] ist S3(T, z) ein Kreisring mit dem Flächeninhalt

(+)  R+r2z22 π  −  Rr2z22 π  =  4 R π r2z2.

Damit berechnet sich das Volumen des Torus zu

V(T)  =  r−r4 R π r2z2 dz  =  4Rπr2π/2  =  2π2Rr2.

3. Integration in ebenen Polarkoordinanten

 Polarkoordinaten stellen eine weitere Möglichkeit dar, die Berechnung von mehrdimensionalen Integralen zu vereinfachen. Wir nehmen zur Vereinfachung an, dass der Definitionsbereich der zu integrierenden Funktion ein Vollkreis KR mit Mittelpunkt 0 und Radius R ist. Durch Nullfortsetzung der Funktion können wir einen solchen Definitionsbereich in ein Rechteck verwandeln, sodass der Begriff der Integrierbarkeit erklärt ist. In Analogie zur schnittweisen Integrierbarkeit setzen wir zudem die polare Integrierbarkeit voraus, d. h., die Existenz der Integrale aller Kreis- und Radialschnitte der Funktion. Diese technische Voraussetzung ist in allen einfachen Beispielen erfüllt.

Satz (Integration in ebenen Polarkoordinaten)

Sei f : KR   eine polarintegrierbare Funktion. Dann gilt:

I(f)=  R00 f (r cos φ, r sin φ) r dφ dr
=  0 R0 f (r cos φ, r sin φ) r dr dφ.

 Der Faktor r entspricht der Tatsache, dass der Umfang eines Kreises mit Radius r das r-Fache des Umfangs des Einheitskreises ist.

Beispiel: Kreisfläche

Sei R > 0, und sei f : KR   konstant gleich 1 auf KR. Dann ist das Integral I(f) die Fläche eines Kreises mit Radius R. Polar berechnet gilt

I(f)  =  R0 0 1 r dφ dr  =  R0 2π r dr  =  πr2r=0r=R  =  R2π.

Beispiel: Die Gaußsche Glockenkurve

Die Gaußsche Glockenkurve g :    mit

g(x)  =  e−x2/2  für alle x  ∈  .

spielt in der Wahrscheinlichkeitstheorie eine fundamentale Rolle bei der Untersuchung normalverteilter Zufallsvariablen. Das uneigentliche Integral

γ  =  −∞ e−x2/2 dx

ist nicht leicht zu berechnen, da die Gaußsche Glockenkurve keine elementare Stammfunktion besitzt. Mit Hilfe einer auf unbestimmte Integrale erweiterten Integration in Polarkoordinaten gelingt die Berechnung des Quadrats von γ vergleichsweise leicht:

γ2 =  ( −∞e−x2/2 dx ) ( −∞e−y2/2 dy )  =  −∞ (−∞ e−x2/2 dx) e−y2/2 dy
=  −∞ −∞ e−x2/2 e−y2/2 dx dy  =  −∞−∞e−(x2 + y2)/2 dx dy
=  0 0 e−r2/2 r dφ dr  =  2π  lim ∞ R0 e−r2/2 r dr
=  2π  lim ∞ er2/2r=0r=R  =  2π · 1  =  2π.

Damit ist also γ = 2π.

4. Integration in räumlichen Polarkoordinaten

 Eine dreidimensionale Variante der ebenen Polarkoordinaten verwendet zur Beschreibung eines Punktes (x, y, z)  ∈  3 die Koordinaten r, θ, φ:

(1)

Die Koordinate r ≥ 0 ist die Euklidische Länge von (x, y, z).

(2)

Die Koordinate θ  ∈  [ 0, π ] ist der Winkel, den (x, y, z) mit der positiven z-Achse einschließt.

(3)

Die Koordinate φ  ∈  [ 0, 2π [ ist der Winkel der Projektion (x, y, 0) von (x, y, z) auf die x‑y‑Ebene wie bei ebenen Polarkoordinaten.

Den Polarkoordinaten (r, θ, φ) entsprechen die kartesischen Koordinaten

(x, y, z)  =  r (sin θ cos φ, sin θ sin φ, cos θ).

Satz (Integration in räumlichen Polarkoordinaten)

Sei f : KR   eine polarintegrierbare Funktion. Dann gilt

I(f)  =  R0 π0 0f(r sin θ cos φ, r sin θ sin φ, r cos θ) r2 sin θ dφ dθ dr.

Erneut sind auch andere Reihenfolgen der Integrale gleichwertig.

Beispiel: Kugelvolumen

Sei K ⊆ 3 die Vollkugel mit Mittelpunkt 0 und Radius R > 0. Dann gilt

V(K) =  R0π00 1 · r2 sin θ dφ dθ dr
=  R0π0 2π r2 sin θ dθ dr
=  2π R0r2 cosθ0π dr  =  R0 4 π r2 dr  =  43 R3 π.

5. Inhalte von Rotationsflächen im dreidimensionalen Raum

Definition (Rotationsfläche einer Kurve)

Sei f : [ a, b ]  3 eine Kurve mit f1(t) ≥ 0 und f2(t) = 0 für alle t  ∈  [ a, b ]. Weiter sei f injektiv auf ] a, b [. Dann heißt f eine Rotationskurve und

ρ(f)  =  { (x, y, f3(t))  ∈  3 | t  ∈  [ a, b ],  x2 + y2 = f1(t)2 }.

die durch f erzeugte Rotationsfläche.

 Um die Oberfläche (genauer: den Oberflächeninhalt) Ar(ρ(f)) von ρ(f) zu berechnen, approximieren wir eine Rotationskurve f : [ a, b ]  3 durch einen Polygonzug. Das zugehörige Rotationsgebilde ist aus den Mantelflächen von Kegelstümpfen (abgeschnittenen Kreiskegeln) zusammengesetzt. Die Mantelfläche eines Kegelstumpfes der Höhe h mit den Radien r1 und r2 ist

(+)  π (r1 + r2) s,  wobei  s = (r1r2)2+h2.(Mantelflächenformel)

Die Größe s ist dabei die Länge einer Mantellinie des Kegelstumpfes. Ist nun p = (tk)k ≤ n eine stützstellenfreie Partition von [ a, b ], so ist nach (+)

Ar(p, f)  =  k ≤ n π(f1(tk) + f1(tk + 1)) ∥ f(tk + 1) − f (tk) ∥

eine Approximation an Ar(ρ(f)). Ist p sehr fein, so ist π(f1(tk + 1) + f1(tk)) für alle t  ∈  [ tk, k + 1 ] ungefähr gleich 2πf1(t). Fügen wir 1/Δk · Δk mit Δk = tk + 1 − tk an die Norm an, so wird folgendes Ergebnis plausibel:

Satz (Inhalt der Rotationsfläche einer Kurve)

Sei f : [ a, b ]  3 eine stetig differenzierbare Rotationskurve. Dann gilt

Ar(ρ(f))  =  ba2 π f1(t) ∥ f ′(t) ∥ dt.

Beispiel: Kugeloberfläche

Sei r > 0 und f : [ 0, π ]  3 definiert durch

f (t)  =  r (sin t, 0, cos t)  für alle t  ∈  [ 0, π ].

Dann ist ρ(f) die Oberfläche einer Kugel K mit Radius r. Die Norm der Ableitung der Kurve f ist konstant gleich r, sodass

Ar(ρ(f))  =  π02 π r sin(t) r dt  =  2r2πcostt=0t=π  =  4 r2 π.