3. Vorlesung Polynome und rationale Funktionen
1. Polynome
Definition (Polynom)
Seien a0, …, an ∈ ℝ. Dann heißt die Funktion f : ℝ → ℝ mit
f (x) = an xn + an − 1 xn − 1 + … + a0 für alle x ∈ ℝ
das (reelle) Polynom oder die (reelle) Polynomfunktion mit den Koeffizienten a0, …, an.
(a) | Ist an ≠ 0, so heißt n der Grad und an der Leitkoeffizient des Polynoms. Gilt an = 1, so heißt das Polynom normiert. |
(b) | Sind alle Koeffizienten gleich 0, so heißt f das Nullpolynom. Dem Nullpolynom ordnen wir den symbolischen Grad −∞ zu. |
(c) | Ein Polynom vom Grad 0 oder −∞ heißt ein konstantes Polynom. |
2. Die Polynomdivision
Satz (Polynomdivision mit Rest)
Seien f, g : ℝ → ℝ Polynome, und sei g nicht das Nullpolynom. Dann gibt es eindeutig bestimmte Polynome q und r mit
f = q g + r und deg(r) < deg(g).
Der Grad des Polynoms q ist die Differenz der Grade von f und g, da
deg(f) = deg(q g + r) = deg(q g) = deg(q) + deg(g)
Beweis
zur Existenz:
Sei f = f0. Wir werden Polynome qi und fi definieren mit
f0 | = q1 g + f1, | deg(f1) < deg(f0), |
f1 | = q2 g + f2, | deg(f2) < deg(f1), |
… | ||
fm − 1 | = qm g + fm, | deg(fm) < deg(g) ≤ deg(fm − 1). |
Dann gilt
f0 = q1 g + f1 = (q1 + q2) g + f2 = … = (q1 + … + qm) g + fm,
sodass die Summe der qi ein Polynom q und r = fm wie gewünscht sind.
Polynome qi und fi mit diesen Eigenschaften definieren wir rekursiv durch
(+) qi = ci xki, fi = fi − 1 − qi g,
wobei ci der Quotient der Leitkoeffizienten und ki die Differenz der Grade von fi − 1 und g ist.
zur Eindeutigkeit:
Ist f = q g + r mit deg(r) < deg(g), so gilt (q − q) g = r − r und damit
deg(q − q) + deg(g) = deg(r − r) < deg(g).
Also ist q − q das Nullpolynom, sodass q = q und folglich r = r.
3. Linearfaktoren
Satz (Abspaltung eines Linearfaktors)
Sei f : ℝ → ℝ ein nichtkonstantes Polynom, und sei x0 eine Nullstelle von f. Dann gibt es ein eindeutiges Polynom q : ℝ → ℝ mit deg(q) = deg(f) − 1 und
f (x) = (x − x0) q(x) für alle x ∈ ℝ.
Beweis
Wir dividieren f durch das Polynom x − x0. Nach dem Satz über die Polynomdivision gibt es eindeutig bestimmte Polynome von q und r mit
(1) | f = q (x − x0) + r, |
(2) | deg(r) < deg(x − x0) = 1. |
(3) | deg(q) = deg(f) − 1. |
Nach (2) ist r ein konstantes Polynom. Nach (1) gilt
0 = f (x0) = q(x0)(x0 − x0) + r(x0) = r(x0).
Da r konstant ist und in x0 eine Nullstelle besitzt, ist r das Nullpolynom. Nach (1) ist damit f = (x − x0) q.
Korollar (Anzahl der Nullstellen eines Polynoms)
Ein Polynom f : ℝ → ℝ vom Grad n ≥ 0 hat höchstens n Nullstellen.
Definition (algebraische Vielfachheit einer Nullstelle)
Sei f ein nichtkonstantes Polynom, und sei x0 eine Nullstelle von f. Weiter sei m ≥ 1 derart, dass ein Polynom g existiert mit
f = (x − x0)m g, g(x0) ≠ 0.
Dann heißt m die algebraische Vielfachheit der Nullstelle x0 von f. Wir sagen auch, dass f bei x0 eine m-fache Nullstelle besitzt.
4. Geometrische Summe und geometrische Reihe
Sei q ∈ ℝ. Die Polynome xn − qn besitzen für alle n ≥ 1 die Nullstelle q. Abspalten von x − q ergibt:
x − q | = (x − q) 1 |
x2 − q2 | = (x − q) (x + q) |
x3 − q3 | = (x − q) (x2 + x q + q2) |
x4 − q4 | = (x − q) (x3 + x2 q + x q2 + q3) |
… | |
xn + 1 − qn + 1 | = (x − q) (xn + xn − 1q1 + … + x1qn − 1 + qn) |
… |
Setzen wir speziell x = 1, so erhalten wir
1 − qn + 1 = (1 − q) (1 + q1 + … + qn − 1 + qn) für alle n ∈ ℕ.
Dies zeigt:
Satz (geometrische Summe)
Für alle n ∈ ℕ und q ∈ ℝ mit q ≠ 1 gilt:
1 + q + q2 + … + qn = 1 − qn + 11 − q.
Für |q| < 1 konvergiert die rechte Seite, wenn n gegen unendlich strebt:
Satz (geometrische Reihe)
Für alle q ∈ ℝ mit |q| < 1 gilt
1 + q + q2 + … + qn + … = 11 − q.
5. Rationale Funktionen
Definition (rationale Funktion, Definitionslücke)
Seien f, g : ℝ → ℝ reelle Polynome, g ≠ 0, und sei P = { x ∈ ℝ | g(x) ≠ 0 }. Dann heißt die Funktion h : P → ℝ mit
h(x) = f (x)g(x) für alle x ∈ P
die durch f und g definierte (reelle) rationale Funktion. Wir bezeichnen sie mit f/g. Die Nullstellen von g heißen die Definitionslücken von f/g.
Beispiele
(1) | Jedes Polynom f ist eine rationale Funktion, da f = f/1. |
(2) | 1/x ist eine rationale Funktion auf ℝ − { 0 }. |
(3) | 1/(x2 + 1) ist eine rationale Funktion auf ℝ. |
6. Polstellen
Das Verhalten einer rationalen Funktion f/g bei Annäherung an eine Definitionslücke x0 hängt vom Nullstellenverhalten des Zählers und Nenners bei x0 ab:
(1) | Ist x0 keine Nullstelle von f oder die algebraische Vielfachheit k von x0 bzgl. f kleiner als die algebraische Vielfachheit m von x0 bzgl. g, so gilt limx → x0 f (x)/g(x) ∈ { ∞, −∞ }. |
(2) | Ist die algebraische Vielfachheit von x0 bzgl. f größergleich derjenigen von x0 bzgl. g, so gilt limx → x0 f (x)/g(x) ∈ ℝ. |
Definition (Vielfachheit einer Polstelle, stetig hebbare Definitionslücke)
Im Fall (1) heißt x0 eine (m − k)-fache Polstelle von f/g, wobei wir k = 0 setzen, falls x0 keine Nullstelle von f ist. Im Fall (2) heißt x0 eine stetig hebbare Definitionslücke von f/g.
Beispiel
Die rationale Funktion f : ℝ − { 1, 2 } → ℝ mit
f (x) = x2 − 1(x − 1)(x − 2) = (x − 1) (x + 1)(x − 1)(x − 2) für alle x ∈ ℝ − { 1, 2 }
besitzt eine stetig hebbare Definitionslücke bei 1 und eine einfache Polstelle bei 2. Es gilt f (x) = (x + 1)/(x − 2) für alle x ≠ 1, 2. Wir setzen die Funktion durch „f (1) = (1 + 1)/(1 − 2) = −2“ stetig zu einer auf ℝ − { 2 } definierten Funktion fort, die wir der Einfachheit halber wieder f nennen.
7. Vollständiger Definitionsbereich und Kürzen
Haben zwei Polynome f und g keine gemeinsamen Nullstellen, so sagen wir, dass die rationale Funktion f/g einen vollständigen Definitionsbereich besitzt. Jede Definitionslücke einer solchen Funktion ist eine Polstelle. Allgemeiner können wir nicht nur gemeinsame Linearfaktoren, sondern gemeinsame Teilerpolynome kürzen. Haben f und g keine gemeinsamen Teilerpolynome, so nennen wir die rationale Funktion f/g vollständig gekürzt.
Konvention
Wir identifizieren rationale Funktionen f1/g1 und f2/g2, die durch Kürzen ineinander übergehen.
Beispiel
Mit dieser Vereinbarung können wir schreiben
x(x + 1)x = x + 11 = x + 1 = (x − 1) (x + 1)2(x − 1) (x + 1) = (x − 1) (x + 1)2x2 − 1.
8. Die Partialbruchzerlegung
Unter einer Partialbruchzerlegung verstehen wir das additive Abspalten von Polstellen.
Beispiel
Wir suchen für die rationale Funktion 1/(x(x + 1)) eine Darstellung der Form
1x(x + 1) = ax + bx + 1.
Um a und b zu bestimmen, schreiben wir
ax + bx + 1 = a(x + 1) + bxx(x + 1) = (a + b)x + ax(x + 1).
Wir suchen also a, b mit (a + b)x + a = 1 = 0 x + 1. Durch Koeffizientenvergleich erhalten wir das Gleichungssystem a + b = 0, a = 1, das durch a = 1, b = −1 eindeutig gelöst wird. Wir erhalten also die Partialbruchzerlegung
1x (x + 1) = 1x + −1x + 1.
Satz (Partialbruchzerlegung, einfacher Pol)
Sei f/g eine rationale Funktion mit deg(f) < deg(g). Weiter sei x0 eine einfache Nullstelle von g, und es sei
g = (x − x0) g*, g*(x0) ≠ 0.
Dann gibt es ein a ∈ ℝ und ein Polynom f* mit deg(f*) < deg(g*), sodass
fg = ax − x0 + f*g*.
Genauer sind a und f* eindeutig bestimmt und es gilt
(+) a = f (x0)g*(x0), f* = f − a g*x − x0.
Beweis
Die gesuchte Darstellung ist äquivalent zu
(#) f = a1 g* + (x − x0) f*.
Wir definieren nun a und f* durch (+). Einsetzen zeigt, dass (#) gilt. Setzen wir umgekehrt x = x0 in (#), so erhalten wir die Formel für a und aus dieser ergibt sich die Formel für f*. Dies zeigt die Existenz und Eindeutigkeit. Nach Definition von f* gilt
deg(f*) ≤ max(deg(f), deg(g*)) − 1 < deg(g) − 1 = deg(g*).
Durch Induktion nach dem Grad k eines Pols erhalten wir:
Satz (Partialbruchzerlegung, mehrfacher Pol)
Sei f/g eine rationale Funktion mit deg(f) < deg(g). Weiter sei x0 eine k-fache Nullstelle von g, und es sei
g = (x − x0)k g*, g*(x0) ≠ 0.
Dann gibt es eindeutig bestimmte a1, …, ak ∈ ℝ und ein Polynom f* mit deg(f*) < deg(g*), sodass
fg = f(x − x0)k g* = ak(x − x0)k + … + a1x − x0 + f*g*.