9. Vorlesung Die Taylor-Entwicklung
1. Schmiegeparabeln
Definition (Schmiegeparabel)
Sei f : P → ℝ zweimal differenzierbar an einer Stelle p ∈ P. Dann heißt die Funktion h : ℝ → ℝ mit
h(x) = f (p) + f ′(p) (x − p) + f ″(p)2 (x − p)2 für alle x ∈ ℝ
die Schmiegeparabel von f an der Stelle p.
Eine Schmiegeparabel h von f stimmt an der Stelle p in der nullten, ersten und zweiten Ableitung mit f überein. Sie ist nur dann eine echte Parabel, wenn f ″(p) ≠ 0. In Fall f ″(p) = 0 fällt h mit der Tangente von f an der Stelle p zusammen.
Satz (quadratischer Approximationssatz)
Sei f : P → ℝ zweimal differenzierbar an der Stelle p ∈ P. Weiter sei h die Schmiegeparabel von f an der Stelle p und r : P → ℝ mit r(x) = f (x) − h(x) für alle x ∈ P. Dann gilt
limx → p r(x)(x − p)2 = 0.
Satz (quadratischer Approximationssatz in Landau-Notation)
Sei f : P → ℝ zweimal differenzierbar an der Stelle p ∈ P. Dann gilt
f (x) = f (p) + f ′(p) (x − p) + f ″(p)2 (x − p)2 + o((x − p)2) für x → p.
2. Taylor-Polynome
Definition (Taylor-Polynome)
Sei f : P → ℝ n-mal differenzierbar an der Stelle p ∈ P. Dann ist das n-te Taylor-Polynom Tnpf : ℝ → ℝ von f im Entwicklungspunkt p definiert durch
Tnpf (x) | = f (p) + f ′(p) (x − p) + f ″(p)2! (x − p)2 + … + f (n)(p)n! (x − p)n |
= ∑k ≤ n f (k)(p)k! (x − p)k für alle x ∈ ℝ. |
Wir nennen das Polynom Tnpf auch die Taylor-Entwicklung der Ordnung n der Funktion f an der Stelle p.
Die Taylor-Polynome der Ordnungen 1 und 2 sind die Tangente und die Schmiegeparabel von f an der Stelle p. Für die dritte Ordnung gilt
T3p (x) = f (p) + f ′(p) (x − p) + f ″(p)2 (x − p)2 + f (3)6 (x − p)3.
3. Der Satz von Peano
Satz (Satz von Peano)
Sei f : P → ℝ n-mal differenzierbar an der Stelle p ∈ P. Weiter sei r : P → ℝ die Funktion mit r(x) = f (x) − Tnpf (x) für alle x ∈ P. Dann gilt
limx → p r(x)(x − p)n = 0.
Satz (Satz von Peano in Landau-Notation)
Sei f : P → ℝ n-mal differenzierbar an der Stelle p ∈ P. Dann gilt
f (x) = Tnpf (x) + o((x − p)n) für x → p.
4. Taylor-Reihen
Definition (Taylor-Reihe)
Sei f : P → ℝ beliebig oft differenzierbar an der Stelle p ∈ P. Dann ist die Taylor-Reihe Tpf von f im Entwicklungspunkt p definiert durch
Tpf (x) = ∑n f (n)(p)n! (x − p)n für alle x ∈ ℝ.
Im Gegensatz zu den Taylor-Polynomen ist keineswegs garantiert, dass durch eine unendliche Taylor-Reihe eine auf ganz ℝ oder auch nur auf P definierte Funktion erklärt ist (Konvergenzproblem). Weiter stellt sich die Frage, ob die erhoffte „perfekte Approximation“, bei der die Restfunktion Null geworden ist, tatsächlich erreicht wird: Stimmt die Taylor-Reihe auf P oder wenigstens auf gewissen Teilintervallen von P mit f überein? (Darstellungsproblem)
6. Eindeutigkeit der Darstellung
Wir kennen bereits die für alle x ∈ ℝ gültigen Potenzreihendarstellungen
exp x = ∑n xnn!, | |
cosh x = ∑n x(2n)(2n)!, | sinh x = ∑n x(2n + 1)(2n + 1)!, |
cos x = ∑n (−1)n x(2n)(2n)!, | sin x = ∑n (−1)n x(2n + 1)(2n + 1)!. |
Die geometrische Reihe liefert ein Beispiel für eine nicht überall gültige Reihen-Darstellung einer Funktion: Für alle reelen Zahlen x ∈ ] −1, 1 [ (und nur für diese) gilt 1/(1 − x) = ∑n xn. Die Funktion 1/(1 − x) ist für alle x ∈ ℝ mit x ≠ 1 definiert. Sie stimmt lediglich auf dem Intervall ] −1, 1 [ mit der unendlichen Reihe ∑n xn überein.
Satz (Koeffizientenberechnung einer Potenzreihendarstellung, Eindeutigkeit)
Seien p ∈ ℝ, ε > 0 und f : ] p − ε, p + ε [ → ℝ dargestellt durch eine Potenzreihe, sodass
f (x) = ∑n an(x − p)n für alle x ∈ ] p − ε, p + ε [.
Dann gilt
an = f (n)(p)n! für alle n ∈ ℕ.
Insbesondere ist eine Potenzreihendarstellung eindeutig bestimmt, d. h. gilt
f (x) = ∑n an(x − p)n = ∑n bn(x − p)n für alle x ∈ ] p − ε, p + ε [ ,
so gilt an = bn für alle n ∈ ℕ.
Beweis
Ist n ∈ ℕ beliebig, so zeigt n-faches gliedweises Differenzieren der Potenzreihe und Auswerten am Nullpunkt, dass f (n)(p) = n! an.
7. Die Taylor-Reihe des Logarithmus
Es gilt
log′(x) = 1x, log″(x) = − 1x2, log(3)(x) = 2 1x3, log(4)(x) = − 3! 1x4,
und allgemein
log(n) (x) = (−1)n − 1 (n − 1)! 1xn für alle n ≥ 1, x > 0.
Wir betrachten den Entwicklungspunkt p = 1, für den die Ableitungen besonders einfache Werte ergeben. Wegen log(1) = 0 erhalten wir:
T1 log (x) = ∑n ≥ 1 (−1)n − 1n (x − 1)n für alle x ∈ ℝ.
Die Taylor-Reihe divergiert zum Beispiel für x = 0, wie es im Hinblick auf den Logarithmus ja auch sein soll, aber auch für x = 3, wo der Logarithmus definiert ist. Man kann zeigen, dass die Taylor-Reihe genau für x ∈ ] 0, 2 ] mit dem Logarithmus übereinstimmt. Speziell ergibt sich für x = 2 die bemerkenswerte Darstellung
log 2 = 1 − 12 + 13 − 14 + …(log(2)-Reihe)
8. Die Taylor-Reihe des Arkustanges
Der Arkustangens arctan : ℝ → ℝ hat für alle n ≥ 1 die Ableitungen
arctan(n)(x) = (n − 1)! qn − 1(x)(1 + x2)n, wobei
qn(x) = (−1)n ∑0 ≤ k ≤ n, k gerade (−1)k/2 xn − k für alle x ∈ ℝ.
Damit ist arctan(2n)(0) = 0 und arctan(2n + 1)(0) = (−1)n/(2n + 1) für alle n, sodass
(+) T0 arctan (x) = x − x33 + x55 − … = ∑n (−1)n x2n + 12n + 1.
Alternativ können wir die geometrische Reihe einsetzen. Es gilt
arctan′(x) = 11 − (−x2) = ∑n (−x2)n = 1 − x2 + x4 − x6 + … für |x| < 1.
Wegen arctan(0) = 0 ergibt sich (+), denn gliedweises Differenzieren der Reihe (+) liefert die geometrische Reihe für arctan′.
Man kann zeigen, dass T0 arctan(x) = arctan(x) genau dann gilt, wenn |x| ≤ 1. Für x = 1 erhalten wir wegen arctan(1) = π/4:
π4 = 1 − 13 + 15 − 17 + …(Leibniz-Reihe)
9. Das Gegenbeispiel von Cauchy
Wir definieren f : ℝ → ℝ durch
Man kann zeigen, das f (n)(0) = 0 für alle n. Damit ist die Taylor-Reihe von f im Entwicklungspunkt 0 die Nullfunktion. Sie stellt eine auf ganz ℝ definierte Funktion dar, stimmt aber nur im Nullpunkt mit f überein.
Das Beispiel zeigt:
Es ist möglich, dass eine Taylor-Reihe überall konvergiert, aber nur im Entwicklungspunkt mit der Ausgangsfunktion übereinstimmt.