Abspalten von Linearfaktoren
Eine wichtige Anwendung der Polynomdivision ist:
Satz (Abspaltung eines Linearfaktors)
Sei f : ℝ → ℝ ein nichtkonstantes Polynom, und sei x0 eine Nullstelle von f. Dann gibt es ein eindeutiges Polynom q : ℝ → ℝ mit deg(q) = deg(f) − 1 und
f (x) = (x − x0) q(x) für alle x ∈ ℝ.
Beweis
Wir dividieren f durch das Polynom x − x0. Nach dem Satz über die Polynomdivision gibt es eindeutig bestimmte Polynome von q und r mit
(1) | f = q (x − x0) + r, |
(2) | deg(r) < deg(x − x0) = 1, |
(3) | deg(q) = deg(f) − 1. |
Nach (2) ist r ein konstantes Polynom. Nach (1) gilt
0 = f (x0) = q(x0)(x0 − x0) + r(x0) = r(x0).
Da r konstant ist und in x0 eine Nullstelle besitzt, ist r das Nullpolynom. Nach (1) ist damit f = (x − x0) q.
Etwas ungenauer spricht man auch vom „Abspalten einer Nullstelle“, obwohl ja nicht x0, sondern eine Gerade x − x0 abgespalten wird.
Folgerungen
Da das Abspalten einer Nullstelle den Grad um 1 reduziert und andere Nullstellen dabei erhalten bleiben, erhalten wir (Beweis als Übung):
Korollar (Anzahl der Nullstellen eines Polynoms)
Sei f : ℝ → ℝ ein Polynom vom Grad n ≥ 0. Dann hat f höchstens n Nullstellen. Genauer gilt: Es gibt ein 0 ≤ k ≤ n, reelle Zahlen x1, …, xk und ein nullstellenfreies Polynom g : ℝ → ℝ mit
(+) f = (x − x1) … (x − xk) g und x1, …, xk sind alle Nullstellen von f.
Ein besonders erfreulicher Fall tritt ein, wenn die Funktion g konstant ist:
Definition (Zerfällung in Linearfaktoren)
Ist das Polynom g in (+) konstant, so sagen wir, dass f in Linearfaktoren zerfällt.
Die Nullstellen x1, …, xk müssen nicht notwendig paarweise verschieden sein:
Definition (algebraische Vielfachheit einer Nullstelle)
Sei f : ℝ → ℝ ein nichtkonstantes Polynom, und sei x0 eine Nullstelle von f. Weiter sei m ≥ 1 derart, dass ein Polynom g : ℝ → ℝ existiert mit
f = (x − x0)m g, g(x0) ≠ 0.
Dann heißt m die algebraische Vielfachheit der Nullstelle x0 von f. Wir sagen auch, dass f bei x0 eine m-fache Nullstelle besitzt.
Salopp formuliert: Wir zählen, wie oft wir x − x0 abspalten können.
Beispiele
(1) | Ist f = (x − x1)n, so ist die algebraische Vielfache von x1 gleich n. Die Funktion besitzt eine n-fache Nullstelle bei x1. |
(2) | Ist x1 ≠ x2 und f = (x − x1)m (x − x2)r, so besitzt die Funktion f eine m-fache Nullstelle bei x1 und eine r-fache Nullstelle bei x2. |
Die Funktion f (x) = (x − 1)2 (x − 2) (x − 4) zerfällt in Linearfaktoren und lässt sich damit als Produkt von Geraden auffassen.
Aus dem Korollar über die Anzahl der Nullstellen eines Polynoms erhalten wir einen weiteren
Beweis des Satzes über die Eindeutigkeit der Nullfunktion
Ist anxn + … + a1x + a0 = 0 für alle x ∈ ℝ, so hat das Polynom n + 1 Nullstellen (etwa 0, …, n). Nach dem Korollar ist es also das Nullpolynom.
Wie oben ergibt sich hieraus der Koeffizientenvergleich für Polynome: Sind zwei Polynome als Funktionen identisch, so stimmen auch die sie definierenden Koeffizienten überein.
Explizit halten wir fest:
Korollar (Identitätssatz für Polynome)
Sind f, g Polynome vom Grad kleinergleich n, die an n + 1 Stellen übereinstimmen, so ist f = g.
Beweis
Das Polynom h = f − g hat einen Grad kleinergleich n und zudem n + 1 Nullstellen. Damit ist h = 0 und folglich f = g.
Ohne die Gradforderung ist das Ergebnis nicht richtig. Durch zwei Punkte der Ebene mit verschiedenen x-Koordinaten kann man sowohl eine Gerade als auch eine Parabel legen. Es gibt aber nur eine Gerade durch die beiden Punkte.
Ein spezielles Beispiel für die Abspaltung einer Nullstelle verdient einen eigenen Zwischenabschnitt: