Entwicklung eines Polynoms in einem Punkt

 Für eine beliebige reelle Zahl p können wir ein Koordinatensystem mit Nullpunkt p betrachten. Der Wechsel in dieses Koordinatensystem wird durch den Übergang von x zu x′ = x − p beschrieben (die Null wird zu −p und p wird zu 0). Anschaulich ist klar, dass ein Polynom n-ten Grades auch in den neuen Koordinaten ein Polynom n-ten Grades ist. Der Beweis des folgenden Satzes zeigt, wie sich die Koeffizienten umrechnen lassen.

Satz

Sei anxn + … + a0 ein Polynom n-ten Grades und sei p  ∈  . Dann gibt es eindeutig bestimmte b0, …, bn  ∈   mit

(+)  anxn  +  …  +  a0  =  bn(x − p)n  +  …  +  b1(x − p)  +  b0   für alle x  ∈  .

Weiter gilt bn = an und b0 = anpn + … + a1p + a0.

Beweis

Wir setzen x′ = x − p. Dann gilt

an xn  +  …  +  a1 x  +  a0 =  an(x′ + p)n  +  …  +  a1(x′ + p)  +  a0
=  bn x′n  +  …  +  b1 x′  +  b0

für gewisse reelle Koeffizienten bi, die wir durch Ausmultiplizieren der Terme (x′ + p)k erhalten. Speziell ergibt das Ausmultiplizieren bn = an und b0 = anpn + … + a1p + a0. Die Eindeutigkeit ergibt sich mit einem der Argumente des Falls p = 0.

 Die Formel für b0 erhalten wir alternativ auch durch Einsetzen von p in (+).

Definition (Entwicklung an einer Stelle)

In der Situation des Satzes heißt das Polynom

bn(x − p)n  +  …  +  b1(x − p)  +  b0

die Entwicklung des Polynoms anxn  +  …  +  a0 an der Stelle p.

Beispiel

Wir entwickeln das Polynom x3 + 2x2 − x + 1 an der Stelle 1. Mit x′ = x − 1 gilt:

x3  +  2x2  −  x  +  1 =  (x′ + 1)3  +  2(x′ + 1)2  −  (x′  +  1)  +  1
=  x′3  +  3x′2  +  3x′  +  1  +  2x′2  +  4x′  +  2  −  x′
=  x′3  +  5x′2  +  6x′  +  3
=  (x − 1)3  +  5(x − 1)2  +  6(x − 1)  +  3

 Die Koeffizienten bi lassen sich auch elegant durch Differenzieren berechnen. Ist f :    mit

f (x)  =  anxn  +  …  +  a0  =  bn(x − p)n  +  …  +  b1(x − p)  +  b0   für alle x  ∈  ,

und x′ = x − p, so erhalten wir durch wiederholtes Ableiten

f (x) =  bn x′n  +  … +  b3 x′3 +  b2 x′2 +  b1 x′  +  b0,
f ′(x) =  n bn x′n − 1  +  … +  3 b3 x′2 +  2 b2 x′ +  1 b1
f ″(x) =  n (n − 1) bn x′n − 2  +  … +  3 · 2 b3 x′ +  2 · 1 b2
f′′′(x) =  n (n − 1) (n − 2) bn x′n − 3  +  … +  3 · 2 · 1 b3 usw.

Einsetzen von x = p liefert wegen x′ = x − p die zauberhafte Formel

(#)  bk  =  f (k)(p)k!  für alle k ≤ n,

wobei f (k) die k-te Ableitung von f bezeichnet (mit f (0) = f).

Beispiel

Wir berechnen die Entwicklung das Polynoms f (x)  =  x3 + 2x2 − x + 1 an der Stelle 1 mit der Ableitungsmethode. Es gilt

f ′(x) =  3x2  +  4x  −  1,
f ″(x) =  6x  +  4,
f′′′(x) =  6.

Damit ist f (1) = 3, f ′(1) = 6, f ″(p) = 10, f′′′(p) = 6, sodass

b0  =  3,  b1  =  6,  b2  =  102!  =  5,  b3  =  63!  =  1.

Wir erhalten also erneut das Polynom

(x − 1)3  +  5(x − 1)2  +  6(x − 1)  +  3.

 Darstellungen dieser Form spielen in der Analysis bei der lokalen Approximation von Funktionen eine Schlüsselrolle: Ziel ist, eine differenzierbare Funktion f an einem gegebenen Entwicklungspunkt p durch ein Polynom zu approximieren (je höher der Grad des Polynoms, desto besser ist in der Regel die Approximation). Dabei entstehen Polynome der Form

bn(x − p)n  +  …  +  b1(x − p)  +  b0,

wobei die Koeffizienten bk erneut durch (#) gegeben sind. Wir besprechen diese sogenannte Taylor-Entwicklung später genauer. Als Anwendung der Methode geben wir hier noch einen weiteren Beweis der Abspaltung von Linearfaktoren, der die Polynomdivision nicht heranzieht:

Zweiter Beweis der Abspaltung eines Linearfaktors

Sei x0 eine Nullstelle von an xn + … + a0, n ≥ 1. Weiter sei

anxn  +  … a1 x  +  a0  =  bn(x − x0)n  +  …  +  b1(x − x0)  +  b0.

die Darstellung des Polynoms im Entwicklungspunkt x0. Dann ist b0 = 0 und folglich

an xn  +  …  +  a1 x  +  a0  =  (x − x0) (bn(x − x0)n − 1  +  …  +  b1).

 Die Idee dieses Beweises lässt sich auch so formulieren: Das Abspalten ist im Fall x0 = 0 offensichtlich, da dann a0 = 0 gelten muss wir x = x − x0 einfach aus anxn + … + a1x ausklammern können. Da alle Nullstellen gleichberechtigt sind, können wir eine beliebige Nullstelle x0 zum neuen Nullpunkt erklären und dann ausklammern.

 Der Beweis benötigt nur die Existenz, nicht die Eindeutigkeit der b-Koeffizienten (b0 = 0 ergibt sich durch Einsetzen von x0). Damit erhalten wir wie oben alle Folgerungen aus dem Abspalten eines Linearfaktors, einschließlich der Eindeutigkeit der Nullfunktion und des Koeffizientenvergleichs.