Polstellen und stetig hebbare Definitionslücken
Das Verhalten einer rationalen Funktion f/g bei Annäherung an eine Definitionslücke x0 hängt vom Nullstellenverhalten des Zählers und Nenners bei x0 ab:
(1) | Ist x0 keine Nullstelle von f oder die algebraische Vielfachheit k von x0 bezüglich f kleiner als die algebraische Vielfachheit m von x0 bezüglich g, so gilt limx → x0 f (x)/g(x) ∈ { ∞, −∞ }. |
(2) | Ist die algebraische Vielfachheit von x0 bzgl. f größergleich derjenigen von x0 bzgl. g, so gilt limx → x0 f (x)/g(x) ∈ ℝ. |
Definition (Vielfachheit einer Polstelle, stetig hebbare Definitionslücke)
Im Fall (1) heißt x0 eine (m − k)-fache Polstelle von f/g, wobei wir k = 0 setzen, falls x0 keine Nullstelle von f ist. Im Fall (2) heißt x0 eine stetig hebbare Definitionslücke von f/g.
Die Vielfachheit einer Polstelle x0 ist ein Maß dafür, wie schnell eine rationale Funktion gegen ± ∞ strebt, wenn x gegen x0 strebt.
Beispiele
(1) | Die rationale Funktion h : ℝ − { 1, 2 } → ℝ mit h(x) = x(x − 1)(x − 2)2 für alle x ∈ ℝ − { 1, 2 } besitzt eine einfache Polstelle bei 1 und eine 2-fache (doppelte) Polstelle bei 2. Eine einfache und eine doppelte Polstelle |
(2) | Die rationale Funktion f : ℝ − { 1, 2 } → ℝ mit f (x) = x2 − 1(x − 1)(x − 2) = (x − 1) (x + 1)(x − 1)(x − 2) für alle x ∈ ℝ − { 1, 2 } besitzt eine stetig hebbare Definitionslücke bei 1 und eine einfache Polstelle bei 2. Durch Kürzen von (x − 1) ergibt sich die einfachere Darstellung (x + 1)/(x − 2) der Funktion f, die aber zunächst nur auf der Menge ℝ − { 1, 2 } definiert ist. Wir können und werden sie durch die Setzung „f (1) = (1 + 1)/(1 − 2) = −2“ zu einer auf ℝ − { 2 } definierten Funktion (die wir wieder f nennen) stetig fortsetzen, was die Bezeichnung „stetig hebbar“ motiviert. Eine stetig hebbare Definitionslücke |
Haben zwei Polynome f und g keine gemeinsamen Nullstellen, so sagen wir, dass die rationale Funktion f/g einen vollständigen Definitionsbereich besitzt. Diese Eigenschaft können wir durch Kürzen von gemeinsamen Linearfaktoren immer erreichen. Alle stetig hebbaren Definitionslücken sind dann geschlossen, sodass jede verbleibende Definitionslücke eine Polstelle ist.
Allgemeiner können wir in f/g nicht nur gemeinsame Linearfaktoren, sondern gemeinsame Teilerpolynome kürzen. Hat f/g bereits einen vollständigen Definitionsbereich P, so wird durch weiteres Kürzen nur noch eine Termdarstellung, aber nicht mehr die Funktion f/g : P → ℝ verändert, da Definitionsbereich und Werte gleich bleiben. Haben f und g keine gemeinsamen Teilerpolynome, so nennen wir die rationale Funktion f/g vollständig gekürzt.
Wir vereinbaren:
Konvention
Wir identifizieren im Folgenden rationale Funktionen f1/g1 und f2/g2, die durch Kürzen ineinander übergehen.
Beispiel
Mit dieser Vereinbarung können wir schreiben
x(x + 1)x = x + 11 = x + 1 = (x − 1) (x + 1)2(x − 1) (x + 1) = (x − 1) (x + 1)2x2 − 1.
Mit rationalen Funktionen können wir so rechnen wie mit rationalen Zahlen. Insbesondere stehen die vier Grundrechenarten zur Verfügung, wobei die Division zweier rationaler Funktionen genau dann erklärt ist, wenn der Divisor nicht das Nullpolynom ist. Es gilt
f1g1 ± f2g2 = f1 g2 ± f2 g1g1 g2, f1g1 · f2g2 = f1 f2g1 g2,
f1/g1f2/g2 = f1 g2f2 g1, falls f2 ≠ 0.
Beispiel
Es gilt
1x − 1 + −2(x − 1)(x + 1) = x + 1 − 2(x − 1)(x + 1) = x − 1(x − 1)(x + 1) = 1x + 1.
Das Beispiel zeigt, dass die nach der Summenformel berechnete Summe zweier gekürzter rationaler Funktionen nicht gekürzt sein muss.