Die Ableitungen des Arkustangens

 Für viele elementare Funktionen lassen die höheren Ableitungen explizit leicht angeben. Die Exponentialfunktion reproduziert sich selbst:

exp,  exp,  exp,  …

Der Sinus hat die periodische Ableitungsfolge

sin,  cos,  − sin,  − cos,  sin,  cos,  − sin,  − cos,  …

Für den Logarithmus ergibt sich

log,  1x,  − 1x2,  2 1x3,  − 3! 1x4,  …,  (−1)n − 1(n − 1)! 1xn,  …,

was durch Induktion nach n leicht nachgewiesen werden kann. Deutlich schwieriger sind die höheren Ableitungen

arctan,  arctan′,  …,  arctan(n),  …

des Arkustangens zu berechnen. Wir geben eine elementare Analyse dieser in der Literatur überraschenderweise kaum beachteten Problemstellung. Die ersten Ableitungen lauten:

arctan′(x) =  11 + x2 =:  g(x)
arctan″(x) =  −2x(1 + x2)2 =  −2x g(x)2
arctan(3)(x) =  2(3x2 − 1)(1 + x2)3 =  2 (3x2 − 1) g(x)3
arctan(4)(x) =  6(−4x3 + 4x)(1 + x2)4 =  3! (−4x3 + 4x) g(x)4
arctan(5)(x) =  24(5x4 − 10x2 + 1)(1 + x2)5 =  4! (5x4 − 10x2 + 1) g(x)5
arctan(6)(x) =  120(−6x5 + 20x3 − 6x)(1 + x2)6 =  5! (−6x5 + 20x3 − 6x) g(x)6

Die auf der rechten Seite der Tabelle isolierten Polynome haben alternierende Vorzeichen. Ihre Koeffizienten tauchen als Diagonalen im Pascalschen Dreieck auf:

1

1

1

1

2

1

1

3

3

1

1

4

6

4

1

1

5

10

10

5

1

1

6

15

20

15

6

1

 Diese Beobachtungen motivieren:

Definition (Arkustangens-Polynome)

Für alle n ≥ 0 ist das n-te Arkustangens-Polynom qn   definiert durch

qn(x)  =  (−1)n 0 ≤ k ≤ n, k gerade n+1k+1 (−1)k/2 xn − k  für alle x  ∈  .

Für alle x  ∈   gilt

q0(x)  =  1,  q1(x)  =  −2x,  q2(x)  =  3x2 − 1,  q3(x)  =  −4x3 + 4x,  …

Mit Blick auf die oben berechneten Ableitungen ist folgendes Ergebnis nicht mehr überraschend:

Satz (Ableitungen des Arkustangens)

Für alle n ≥ 1 gilt

arctan(n)(x)  =  (n − 1)! qn − 1(x)(1 + x2)n  für alle x  ∈  .

 Beim Versuch, den Satz durch Induktion nach n ohne weitere Vorbereitungen zu beweisen, verwickeln wir uns leicht in unüberschaubare Terme. Es ist daher nützlich, vorab einige Eigenschaften der Polynome zu isolieren:

Satz (Eigenschaften der Arkustangens-Polynome)

Sei n ≥ 0. Dann gilt:

(a)

qn ist ein Polynom vom Grad n.

(b)

qn(−x)  =  (−1)n qn(x)  für alle x  ∈  .

(c)

qn(0) = 0 für n ungerade,  qn(0) = (−1)n/2 für n gerade.

(d)

qn′  =  − (n + 1) qn − 1  für n ≥ 1.

(e)

qn(x) + 2x qn − 1(x) + (1 + x2) qn − 2(x)  =  0  für n ≥ 2.

Beweis

Die ersten vier Eigenschaften sind leicht einzusehen. Die fünfte Eigenschaft zeigen wir durch Induktion nach n ≥ 2. Der Induktionsanfang n = 2 ist klar. Im Induktionsschritt von n − 1 nach n berechnen wir

ddx(qn(x) + 2x qn − 1(x) + (1 + x2) qn − 2(x))

=  qn′(x) + 2qn − 1(x) + 2xqn − 1′(x) + 2x qn − 2(x) + (1 + x2) qn − 2′(x)

=  (1 − n) (qn − 1(x) + 2x qn − 2(x) + (1 + x2) qn − 3(x))  =I. V.  0.

Damit ist das abgeleitete Polynom konstant. Nach (b) hat es an der Stelle 0 den Wert 0, sodass das Polynom das Nullpolynom ist.

 Problemlos ist nun:

Beweis des Satzes über die Ableitungen des Arkustangens

Wir zeigen die Behauptung durch Induktion nach n ≥ 1. Der Induktionsanfang n = 1 ist klar wegen q0 = 1 und arctan′(x) = 1/(1 + x2). Im Induktionsschritt von n nach n + 1 berechnen wir mit Hilfe von (d) und (e):

arctan(n + 1) =  (n − 1)! qn − 1′(x)(1 + x2)n − 2 n x qn − 1(x)(1 + x2)n − 1(1 + x2)2n
=  (n − 1)! − n qn − 2(x) (1 + x2) − 2 n x qn − 1(x)(1 + x2)n + 1
=  n! qn(x)(1 + x2)n.

 Die Frage betrifft letztendlich die höheren Ableitungen der rationalen Funktion 1/(1 + x2). Der Arkustangens kommt „nur“ durch arctan′(x) = 1/(1 + x2) ins Spiel. Unabhängig davon haben die qn-Polynome interessante Eigenschaften. Normieren wir (Leitkoeffizient wird 1) die qn-Polynome durch

pn(x)  =  (−1)nn + 1 qn(x)  für alle n ≥ 0 und x  ∈  ,

so gilt

(+)  pn′  =  (−1)n − 1 qn − 1  =  n pn − 1  für alle n ≥ 1.

Der Leser vergleiche dies mit der Ableitung d/dx xn = n xn − 1 für die Monome. Eine Folge (rn)n ≥ 0 von Polynomen mit rn′ = n rn − 1 für alle n ≥ 1 ist in der Literatur als Appell-Folge bekannt. Nach (+) bilden die pn-Polynome wie die Monome xn eine Appell-Folge.