Taylor-Reihen

 Es ist verführerisch, die Taylor-Entwicklung nicht bei einer bestimmten Ordnung abzubrechen, sondern unendlich fortzusetzen:

Definition (Taylor-Reihe)

Sei f : P   beliebig oft differenzierbar an der Stelle p  ∈  P. Dann ist die Taylor-Reihe Tpf von f im Entwicklungspunkt p definiert durch

Tpf (x)  =  n f (n)(p)n! (x − p)n  für alle x  ∈  .

 Im Gegensatz zu den Taylor-Polynomen ist keineswegs garantiert, dass durch eine unendliche Taylor-Reihe eine auf ganz  oder auch nur auf P definierte Funktion erklärt ist (Konvergenzproblem). Weiter stellt sich die Frage, ob die erhoffte „perfekte Approximation“, bei der die Restfunktion Null geworden ist, tatsächlich erreicht wird: Stimmt die Taylor-Reihe auf P oder wenigstens auf gewissen Teilintervallen von P mit f überein? (Darstellungsproblem). Offensichtlich ist nur die Übereinstimmung im Entwicklungspunkt. Ob die Funktion f auch in anderen Punkten durch ihre Taylor-Reihe dargestellt wird, und welche Punkte dies genau sind, ist nicht klar.

 Die Untersuchung dieser Fragen ist eine nichttriviale Aufgabe der Analysis. Unseren spielerisch-experimentellen Ansatz fortsetzend behandeln wir diesen Problemkreis exemplarisch. Begegnet sind uns bisher die für alle x  ∈   gültigen Potenzreihendarstellungen

exp x  =  n xnn!,
cosh x  =  n x(2n)(2n)!, sinh x  =  n x(2n + 1)(2n + 1)!,
cos x  =  n (−1)n x(2n)(2n)!, sin x  =  n (−1)n x(2n + 1)(2n + 1)!.

Die Reihen auf der rechten Seite sind die Taylor-Reihen der Funktionen im Entwicklungspunkt 0. Dies lässt sich explizit durch Berechnung der Taylor-Reihen nachweisen oder allgemein aus der Eindeutigkeit einer Potenzreihendarstellung folgern:

Satz (Koeffizientenberechnung einer Potenzreihendarstellung, Eindeutigkeit)

Seien p  ∈  , ε > 0 und f : ] p − ε, p + ε [   dargestellt durch eine Potenzreihe, sodass

f (x)  =  n an(x − p)n  für alle x  ∈  ] p − ε, p + ε [.

Dann gilt

an  =  f (n)(p)n!  für alle n  ∈  .

Insbesondere ist eine Potenzreihendarstellung eindeutig bestimmt, d. h. gilt

f (x)  =  n an(x − p)n  =  n bn(x − p)n  für alle x  ∈  ] p − ε, p + ε [ ,

so gilt an = bn für alle n  ∈  .

Beweis

Ist n  ∈   beliebig, so zeigt n-faches gliedweises Differenzieren der Potenzreihe und Auswerten am Entwicklungspunkt, dass f (n)(p) = n! an.

 Ist eine Funktion f : P   als Taylor-Reihe darstellbar, d. h. gilt

f (x)  =  Tpf (x)  =  n f (n)(p)n! (x − p)n  für alle x  ∈  P,

so bedeutet dies, dass die gesamte Funktion durch die Folge

f (p),  f ′(p),  f ″(p),  …,  f (n)(p),  …

ihrer Ableitungen an der Stelle p festgelegt ist. Kennen wir nämlich diese Ableitungen, so kennen wir die Taylor-Reihe Tpf und damit die Funktion f. Der Leser beachte, dass sich alle Ableitungen berechnen lassen, wenn die Funktion f auf einem winzigen Ausschnitt um den Entwicklungspunkt herum vorliegt: Aus f] p − ε, p + ε [ lässt sich, für ein beliebig kleines ε > 0, die gesamte Funktion f : P   rekonstruieren − immer vorausgesetzt, f ist durch Tpf darstellbar. Der Verlauf von f ist in diesem Sinne durch den Verlauf von f im Intervall ] p − ε, p + ε [ determiniert. Die Folge der Ableitungen von f an der Stelle p trägt die gesamte Vergangenheit und Zukunft von f in sich.

 Die perfekte Darstellbarkeit wie bei den Funktionen exp, cosh, sinh, sin, cos ist aber nicht in allen Fällen zu erreichen. Wir betrachten hierzu vier Beispiele, die die auftretenden Phänomene illustrieren.

Beispiel 1: Die geometrische Reihe als Taylor-Reihe

Sei f :  − { 1 }   definiert durch

f (x)  =  11 − x  für alle x ≠ 1.

Aufgrund unserer Überlegungen zur geometrischen Reihe wissen wir, dass

f (x)  =  11 − x  =  n xn  für alle x  ∈  ] −1, 1 [.

Aufgrund des Eindeutigkeitssatzes ist die geometrische Reihe n xn die Taylor-Reihe von f im Entwicklungspunkt 0. Zur Illustration berechnen wir die Taylor-Reihe durch Bestimmung der Ableitungen. Für alle x ≠ 1 gilt

f ′(x)  =  1(1 − x)2,  f ″(x)  =  2!(1 − x)3,  …,  f (n)(x)  =  n!(1 − x)n + 1,  …

Damit ist f (n)(0) = n! für alle n  ∈  .

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Die Funktion 1/(1 - x) und einige Taylor-Polynome fn der Ordnung n im Entwicklungspunkt p = 0

Für den Entwicklungspunkt p = 0 erhalten wir also

T1 f (x)  =  n n!n! (x − 0)n  =  n xn  für alle x  ∈  .

Damit haben wir die geometrische Reihe wiedergefunden. Es gilt

f (x)  =  11 − x  =  n xn  =  T1 f (x)

genau dann, wenn |x| < 1. Die Taylor-Entwicklung von f im Entwicklungspunkt p = 0 stimmt mit f nur in einem endlichen Intervall überein. Genauer ist dieses Intervall symmetrisch um den Entwicklungspunkt, und es reicht bis zur Polstelle von f. Der Definitionsbereich  − { 1 } von f ist wesentlich größer als der Konvergenzbereich der Taylor-Reihe. So gilt zum Beispiel f (−1) = 1/2, während

n (−1)n  =  1  −  1  +  1  −  1  +  … 

nicht konvergiert, da die Partialsummen 1, 1 − 1, 1 − 1 + 1, 1 − 1 + 1 − 1, … zwischen 1 und 0 hin und her pendeln.

Besipiel 2: Die Taylor-Reihe des Logarithmus

Es gilt

log′(x)  =  1x,  log″(x)  =  − 1x2, 

log(3)(x)  =  2 1x3,  log(4)(x)  =  − 3! 1x4,

und allgemein

log(n) (x)  =  (−1)n − 1(n − 1)! 1xn  für alle n ≥ 1, x > 0.

Wir betrachten den Entwicklungspunkt p = 1, für den die Ableitungen besonders einfache Werte ergeben. Wegen log(1) = 0 erhalten wir:

T1 log (x)  =  n ≥ 1 (−1)n − 1n (x − 1)n  für alle x  ∈  .

Die Taylor-Reihe divergiert zum Beispiel für x = 0, wie es im Hinblick auf den Logarithmus ja auch sein soll, aber auch für x = 3, wo der Logarithmus definiert ist. Man kann zeigen, dass die Taylor-Reihe genau für x  ∈  ] 0, 2 ] mit dem Logarithmus übereinstimmt. Speziell ergibt sich für x = 2 die bemerkenswerte Darstellung

log 2  =  1  −  12  +  13  −  14  +  …(log(2)-Reihe)

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Einige Taylor-Polynome fn = Tn1 log

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Zur log(2)-Reihe: sn = 1  −  12  +  13  −  14  +  …  +  (−1)n + 11n

 Wählen wir den Entwicklungspunkt p = 2, so erhalten wir eine Taylor-Reihe, die im Intervall ] 0, 4 ] konvergiert und dort den Logarithmus darstellt. Allgemeiner erhalten wir für einen Entwicklungspunkt p > 0 eine Konvergenz und Übereinstimmung im Intervall ] 0, 2p]. Dieses Verhalten ergibt sich auch bei der Quadratwurzelfunktion, die ja im Nullpunkt nicht differenzierbar ist. Im Gegensatz zur Taylor-Entwicklung der Funktion 1/(1 − x) aus dem ersten Beispiel ist nun der Konvergenzbereich ein halboffenes Intervall. Allgemein zeigt sich:

Der Konvergenzbereich einer Taylor-Reihe ist immer symmetrisch um den Entwicklungspunkt p. Genauer ist er von der Form

[ p − r, p + r ],  ] p − r, p + r] ,  [ p − r, p + r [  oder  ] p − r, p + r [

mit einem gewissen Konvergenzradius r ≤ ∞.

Damit kann eine Taylor-Reihe global keine Funktion wie 1/x, sqrt x, log x oder tan x darstellen, deren Definitionsbereich nicht symmetrisch zum Entwicklungspunkt p ist. Salopp formuliert:

Die Taylor-Entwicklung bleibt an kritischen Stellen hängen.

Umgekehrt stellt sich die Frage, ob ein symmetrischer Definitionsbereich die Darstellbarkeit durch eine Taylor-Reihe garantiert. Wir betrachten hierzu:

Beispiel 3: Taylor-Reihe des Arkustangens

Der Arkustangens arctan :    hat für alle n ≥ 1 die Ableitungen

arctan(n)(x)  =  (n − 1)! qn − 1(x)(1 + x2)n,  wobei

qn(x)  =  (−1)n 0 ≤ k ≤ n, k gerade n+1k+1 (−1)k/2 xn − k  für alle x  ∈  .

Damit ist arctan(2n)(0) = 0 und arctan(2n + 1)(0) = (−1)n/(2n + 1) für alle n, sodass

(+)  T0 arctan (x)  =  x  −  x33  +  x55  −  …  =  n (−1)n x2n + 12n + 1.

Alternativ können wir die geometrische Reihe einsetzen. Es gilt

arctan′(x)  =  11 − (−x2)  =  n (−x2)n  =  1 − x2 + x4 − x6 + …  für |x| < 1.

Wegen arctan(0) = 0 ergibt sich (+), denn gliedweises Differenzieren der Reihe (+) liefert die geometrische Reihe für arctan′.

Man kann zeigen, dass T0 arctan(x) = arctan(x) genau dann gilt, wenn |x| ≤ 1. Für x = 1 erhalten wir wegen arctan(1) = π/4:

π4  =  1  −  13  +  15  −  17  +  …(Leibniz-Reihe)

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Einige Taylor-Polynome fn = Tn1 arctan

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Zur Leibniz-Reihe: sn = 1  −  13  +  15  −  17  +  …  +  (−1)n − 112n − 1

 Zu dieser überraschenden Darstellung von π/4 gesellt sich die ebenso überraschende Divergenz der Reihe für x mit |x| > 1. Wenn sich Kosinus und Sinus als Reihe auf ganz  darstellen lassen, warum nicht auch der Arkustangens? Das Phänomen klärt sich erst, wenn wir die reellen Zahlen zu den komplexen Zahlen erweitern: Die komplexwertige Arkustangens-Funktion hat die imaginäre Einheit i als Polstelle, und i besitzt den Abstand 1 vom Entwicklungspunkt 0. (Dies kann man durch Betrachtung der Ableitung 1/(1 + x2) erkennen, die eine Polstelle bei x aufweist, falls x2 = −1 gilt.) Erst durch eine Erweiterung des Zahlbereichs wird also der im Reellen überraschend kleine Konvergenzradius r = 1 befriedigend erklärt: Die Taylor-Entwicklung bleibt bei i hängen, wobei dieses Hindernis im Reellen nicht zu sehen ist.

 Bislang haben wir stets eine Übereinstimmung der Taylor-Reihe mit der Ausgangsfunktion auf einem echten Intervall, dessen Mittelpunkt der Entwicklungspunkt ist, gefunden und damit zumindest lokal eine „perfekte Approximation“ (mit Rest 0) gefunden. Das folgende Beispiel zeigt, dass dies nicht immer so ist:

Beispiel 4: Das Gegenbeispiel von Cauchy

Wir definieren f :    durch

f(x)=e1/x2falls x0,0falls x=0.

Man kann zeigen, das f (n)(0) = 0 für alle n. Damit ist die Taylor-Reihe von f im Entwicklungspunkt 0 die Nullfunktion. Sie stellt eine auf ganz  definierte Funktion dar, stimmt aber nur im Nullpunkt mit f überein.

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Die Funktion f von Cauchy und ihre erste und zweite Ableitung

 Wir müssen also wohl oder übel konstatieren:

Es ist möglich, dass eine Taylor-Reihe überall konvergiert, aber nur im Entwicklungspunkt mit der Ausgangsfunktion übereinstimmt.

 Eine Variante erhalten wir, indem wir die Funktion f von Cauchy auf der negativen x-Achse gleich Null setzen. Die Taylor-Reihe dieser Funktion ist erneut die auf ganz  definierte Nullfunktion. Sie stimmt genau auf dem Intervall ] −∞, 0 ] mit der Funktion überein.

 Derartige Funktionen dürfen aber als Sonderfälle gelten. Auch hier bringt erst die komplexe Analysis Licht ins Dunkel, denn im Komplexen gilt: Eine komplex-differenzierbare Funktion lässt sich lokal (und etwas salopp formuliert: so weit als möglich) immer in eine Taylor-Reihe entwickeln. Hat also eine reelle Funktion eine differenzierbare komplexe Version, so kann eine Diskrepanz wie im Beispiel von Cauchy nicht auftreten. Die komplexe Variante der Funktion von Cauchy ist im Nullpunkt nicht mehr differenzierbar. Wie beim Arkustangens ist diese Eigenschaft der Funktion im Reellen nicht zu sehen. Positiv formuliert können wir feststellen, dass wir im Reellen Freiheiten haben, den Verlauf einer an einer Stelle beliebig oft differenzierbaren Funktion zu gestalten, die in der determinierten Welt des Komplexen nicht vorhanden sind.