Krümmungskreise

 Die zweite Ableitung einer Funktion f spiegelt die Änderung des Steigungsverhaltens von f wider. Eine Änderung des Steigungsverhaltens bewirkt anschaulich eine Änderung der Krümmung des Graphen von f. Dass f ″(p) kein direktes Maß für die Krümmung von f an der Stelle p ist, zeigen zum Beispiel die Einheitsparabel oder der Kreisbogen 1x2 auf ] −1, 1 [: Die Parabel ist anschaulich nicht konstant gekrümmt, hat aber eine konstante zweite Ableitung. Und für den Kreisbogen ist es genau umgekehrt.

 Ein Maß für die Krümmung von f an der Stelle p erhalten wir, indem wir an den Graphen von f einen Kreis anlegen, der durch den Punkt (p, f (p)) verläuft und dort die Funktion f möglichst gut approximiert (vgl. Tangenten und Schmiegeparabeln). Einem Kreis mit Radius r ordnen wir die Krümmung 1/r zu, da die Krümmung mit größeren Radien abnehmen soll. Hat nun der approximierende Kreis den Radius r, so soll f an der Stelle p die Krümmung ±1/r zugeordnet werden, je nachdem, ob f links- oder rechtsgekrümmt ist. Der Kreismittelpunkt liegt entsprechend auf der linken bzw. rechten Seite von f.

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Wir konstruieren den Punkt M(r) auf der Senkrechten der Tangente durch (p, f (p)) so, dass sich der Kreis mit Mittelpunkt M(r) und Radius r bestmöglich an f anschmiegt.

 Zur Berechnung des besten Radius nehmen wir f als konvex an und setzen

v  =  (1, f ′(p)),  c  =  1+f ′(p)2,  w  =  1/c rotπ/2(v)  =  1/c (−f ′(p), 1).

Der Vektor w hat die Länge 1, und er steht senkrecht auf dem Richtungsvektor v der Tangente von f an der Stelle p. Wir setzen nun

M(r)  =  (xr, yr)  =  (p, f (p))  +  r w  für alle r > 0.

Die Aufgabe ist, r so einzustellen, dass sich der Kreis K(r) mit Mittelpunkt M(r) und Radius r bestmöglich an f im Punkt (p, f (p)) anschmiegt. Wir stellen hierzu die untere Hälfte von K(r) durch die Funktion gr : I(r)   dar mit

gr(x)  =  yr  −  r2(xxr)2  für alle x  ∈  I(r) = ] xr − r, xr + r [.

Die Funktion gr stimmt für alle r > 0 an der Stelle p mit f (p) überein. Weiter gilt

gr′(x)  =  xxrr2(xxr)2  für alle x  ∈  I(r).

Wegen

p − xr  =  r/c f ′(p)  und  c2 − f ′(p)2 = 1

gilt gr(p)′ = f ′(p) für alle r > 0. Bis jetzt sind alle Radien gleich gut. Den gesuchten optimalen Radius erhalten wir, indem wir gr″(p) = f ″(p) fordern. Die Funktion hat dann an der Stelle p die Krümmung 1/r des Halbkreises gr.

 Ausrechnen liefert den erfreulich überschaubaren Wert

f ″(p)  =  gr″(p)  =  r2r2(pxr)23/2  =  c3r.

Im Fall f ″(p) ≠ 0 ergibt sich r = c3/f ″(p) und

M(r)  =  (p, f (p))  +  rc(−f ′(p), 1)  =  (p, f (p))  +  c2f ″(p)(−f ′(p), 1).

Ist f ″(p) = 0, so erhalten wir keinen Krümmungsradius, die Funktion ist in diesem Fall an der Stelle p nicht gekrümmt.

 Eine konkave (rechtsgekrümmte) Funktion behandeln wir analog, wobei wir nun v im Uhrzeigersinn drehen, da der gesuchte Kreismittelpunkt rechts von f liegt. Wir erhalten f ″(p) = −c3/r. Die rechte Seite der Formel für den Mittelpunkt M(r) bleibt gleich, da f ″(p) im Nenner negativ ist.

 Diese Überlegungen motivieren:

Definition (Krümmung, Krümmungsradius, Krümmungskreis)

Sei f : P   zweimal differenzierbar, und sei p  ∈  P. Weiter sei

c  =  1+f ′(p)2.

Dann ist die Krümmung k und im Fall f ″(p) ≠ 0 der Krümmungsradius r und der Krümmungskreismittelpunkt M von f an der Stelle p definiert durch

k  =  f ″(p)c3,  r  =  1|k|  =  c3|f ″(p)|,  M  =  (p, f (p))  +  c2f ″(p)(−f ′(p), 1).

 In den Krümmungsradius geht neben der zweiten Ableitung f ″(p) also auch die erste Ableitung f ′(p) ein.

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Krümmungskreise der Einheitsparabel an den Stellen p = 0, 1/4, 1/2.

Die Krümmungskreismittelpunkte (Evolute) durchlaufen die Funktion g mit

g(x) = 1/2 + 3/4 34x2.

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Krümmungskreise des Kosinus an den Stellen p = −π, −π/8, 3/4π.

Die Evolute lässt sich nicht mehr als Funktion darstellen.

 Zur Illustration der Formeln zeichnen wir noch die Krümmung k = kf als Funktion für einige f, d. h. es gilt k(x) = f ″(x)/(1 + f ′(x)2)3/2.

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Die Krümmungsfunktion k der Exponentialfunktion nimmt ihr Maximum an der Stelle p = − log(2)/2 an. Es gilt k(p) = 2/(33).