Die Substitutionsregel
Satz (Substitutionsregel)
Seien f : J → ℝ stetig und s : I → J stetig differenzierbar. Dann gilt
∫(f ∘ s) s′ = (∫f) ∘ s,
∫ba(f ∘ s) s′ = ∫s(b)s(a) f für alle a, b ∈ I.
Nach den Voraussetzungen sind
f : J → ℝ und (f ∘ s) · s′ : I → ℝ
stetig, sodass diese Funktionen Stammfunktionen besitzen. Sei F eine Stammfunktion von f, d. h.
F = ∫ f.
Nach der Kettenregel ist
(F ∘ s)′ = (f ∘ s) · s′,
sodass
(∫f ) ∘ s = F ∘ s
eine Stammfunktion von (f ∘ s) · s′ ist. Dies zeigt die Version für unbestimmte Integrale. Auswertung liefert
∫ba(f ∘ s) s′ = = = ∫s(b)s(a)f für alle a, b ∈ I.
In Anwendungen wird die Regel oft von rechts nach links (Einführen einer Substitution) statt von links nach rechts (Elimination einer Substitution) verwendet: Gesucht ist eine Stammfunktion von f. Um eine solche zu finden, führt man eine bijektive Substitutionsfunktion s ein, sodass
∫f = (∫(f ∘ s) s′) ∘ s− 1 (mit s−1 : J → I).
Bei einer geschickt gewählten Funktion s kann der Integrand auf der rechten Seite deutlich einfacher sein als der Integrand f auf der linken Seite.
Bei der Durchführung des Substitutions-Verfahrens bewährt sich die Leibniz-Notation:
Anwendung der Substitutionsregel in der Leibniz-Notation
(1) | Zu bestimmen ist das Integral einer in der Variablen x gegebenen Funktion f. |
(2) | Wir setzen x = s(t) für eine frei gewählte stetig differenzierbare Substitutionsfunktion s, deren Werte im Definitionsbereich des Integranden liegen. |
(3) | Aus dxdt = ds(t)dt = s′(t) gewinnen wir (+) dx = ds(t) = s′(t) dt. Folglich ist ∫ f (x) dx = ∫ f (s(t)) ds(t) = ∫ f (s(t)) s′(t) dt. |
(4) | Die Bestimmung des Integrals auf der rechten Seite in (3) (evtl. mit Hilfe weiterer Substitutionen) liefert eine Funktion F(t) in der Variablen t, die man zur Berechnung bestimmter Integrale über f verwenden kann: ∫x = bx = a f (x) dx = ∫t = s−1(b)t = s−1(a) f (s(t)) s′(t) dt = . Die Substitutionsfunktion s muss dabei nicht injektiv sein, in den Intervallgrenzen können wir beliebige Urbilder von a und b einsetzen. Ist s injektiv, so liefert das Einsetzen von t = s−1(x) (Rücksubstitution) in F(t) eine Funktion F(s−1(x)) in x. Diese Funktion ist eine Stammfunktion von f auf dem Wertebereich von s. |
Zuweilen wird im Schritt (2) auch ein funktionaler Zusammenhang der Form
t = h(x), dt = dh(x) = h′(x) dx
hergestellt, der der unmittelbaren Vereinfachung des Integranden dient: Terme der Form h(x) im Integranden werden zu t, h′(x)dx wird zu dt und die Integrationsgrenzen a und b werden zu h(a) und h(b) (dies entspricht der Anwendung der Regel von links nach rechts: Entfernen einer Substitution). Weiter verzichtet man oft darauf, den Substitutionsfunktionen Namen zu geben und rechnet statt dessen mit Variablen, die über bestimmte Terme miteinander zusammenhängen. Anders formuliert: Die Variablen t und x werden als Funktionen t(x) und x(t) aufgefasst.
Die folgenden Beispiele erläutern das Verfahren.
Beispiel: Geraden als Substitution
Seien c, d ∈ ℝ mit c ≠ 0. Wir betrachten das Integral
∫baf(c x + d) dx
für eine beliebige Funktion f, für die das Integral in den Grenzen von a bis b definiert ist. Mit
t = c x + d, dt = c dx
gilt
∫baf(c x + d) dx | = 1c ∫x = bx = a f(c x + d) c dx = |
= 1c ∫t = c b + dt = ca + d f (t) dt = 1c ∫cb+dca+d f (t) dt. |
In der unbestimmten Form können wir schreiben:
∫f(c x + d) dx = 1c ∫ f (t) dt = 1c F(t) = 1c F(cx + d),
wobei F(t) eine in t = t(x) notierte Stammfunktion von f ist.
Beispiel: Integral einer logarithmischen Ableitung
Sei g : [ a, b ] → ] 0, ∞ [ stetig differenzierbar. Wir betrachten das Integral
∫bag′(x)g(x) dx.
Mit
t = g(x), dt = g′(x) dx
erhalten wir
∫x = bx = ag′(x)g(x) dx = ∫t = g(b)t = g(a) 1t dt = = .
In unbestimmter Form gilt
∫g′(x)g(x) dx = ∫ 1t dt = log(t) = log(g(x)).
Die Stammfunktion log(g(x)) lässt sich in diesem einfachen Fall natürlich auch raten, vgl. obiges Beispiel zur Berechnung der Integrals des Arkustangens. Der Quotient L(g) = g′/g ist als logarithmische Ableitung der Funktion g bekannt. Er erfüllt die Ableitungsregel L(gh) = L(g) + L(h).
Beispiel: Berechnung von Kreisflächen, I
Sei r > 0 und Kr = { (x, y) ∈ ℝ2 | x2 + y2 = r2 } der Kreis mit Mittelpunkt 0 und Radius r. Wir berechnen die Fläche dieses Kreises mit Hilfe von Integration. Hierzu betrachten wir die Funktion f : [ −r, r ] → ℝ mit
f (x) = für alle x ∈ [ −r, r ],
deren Graph die obere Hälfte des Kreises ist.
Das Integral über f von −r bis r ist die Hälfte der gesuchten Kreisfläche. Zur Berechnung dieses Integrals setzen wir
x = r sin(t), dx = r cos(t) dt.
(Eine geometrische Motivation diskutieren wir in den Übungen.) Dann gilt
∫r−r f (x) dx | = ∫x = rx = −r dx = ∫t = π/2t = −π/2 r cos(t) dt |
= r2 ∫t = π/2t = −π/2 cos(t) dt | |
= r2 ∫t = π/2t = −π/2 cos(t) dt | |
= r2 ∫t = π/2t = −π/2 |cos(t)| cos(t) dt = r2 ∫t = π/2t = −π/2 cos2(t) dt | |
= r2 = r2 (π4 + π4) = r2 π2, |
wobei wir cos(t) ≥ 0 für t ∈ [ −π/2, π/2 ] und das oben mit Hilfe partieller Integration berechnete Integral über cos2 verwendet haben. Damit berechnet sich die Kreisfläche zu r2 π.
Beispiel: Berechnung von Kreisflächen, II
Sei r > 0. Wir bestimmen in Erweiterung des vorangehenden Beispiels eine Stammfunktion von f : [ −r, r ] → ℝ mit
f (x) = für alle x ∈ [ −r, r ].
Sei wieder
x = r sin(t), dx = r cos(t) dt, t = arcsin(xr).
Dann gilt (wie in obiger Rechnung)
∫ f (x) dx | = r2 ∫ cos2(t) dt |
= r2 cos(t) sin(t) + t2 (Rücksubstitution) | |
= r22 (cos(arcsin(xr)) xr + arcsin(xr)) | |
= r22 ( xr + arcsin(xr)) | |
= 12 ( x + r2 arcsin(xr)). |
Auswerten der Stammfunktion in den Grenzen von x = −r bis x = r liefert wegen arcsin(±1) = ± π/2 erneut den Wert r2π/2 und damit die Hälfte der Fläche eines Kreises mit Radius r. Mit der Stammfunktion lassen sich aber allgemeiner aber auch Teilflächen eines Kreises und insbesondere Kreissegmente berechnen. Für r = 1 ergibt sich folgendes Bild:
Die Substitutionsregel kann bei der Berechnung eines Integrals mehrfach hintereinander angewendet werden. Nach einer Substitution t = s1(x) können wir zum Beispiel u = s2(t) setzen. Sind s1 und s2 injektiv, so lautet die Rücksubstitution
x = s1−1(t) = s1−1(s2−1(u)).
Erneut können wir die Notation zu t = t(x) und u = u(t) vereinfachen, sodass die Substitutionsfunktionen mit den Variablennamen verschmelzen.
Beispiel: Mehrfache Substitution
Mit den Substitutionen
t = sin(x), dt = cos(x) dx, u = 2t, du = 2 dt
gilt
∫ cos x1 + 4 sin2 x dx | = ∫ 11 + 4t2 dt | |
= ∫ 11 + u2 12 du | ||
= 12 arctan(u) = 12 arctan(2t) | ||
= 12 arctan(2sin(x)). |
Zur Illustration der Regel betrachten wir noch:
Beispiel: Nichtinjektive Substitutionen
Mit der Substitution
x = sin(t), dx = cos(t) dt
gilt x ∈ [ −1, 1 ] für alle t ∈ ℝ und
∫ 2x dx = ∫ 2 sin(t) cos(t) dt = sin2(t).
Wegen x2 = sin2(t) erhalten wir die Stammfunktion x2, formal aber nur auf dem Intervall [ −π/2, π/2 ], auf dem die Substitution injektiv ist: Auf diesem Intervall ist t = arcsin(x) und sin2(t) = sin2(arcsin(x)) = x2. Zur Berechnung von bestimmten Integralen mit Intervallgrenzen im Wertebereich [ −1, 1 ] der Substitutionsfunktion können wir aber die Funktion sin2(t) mit beliebigen Urbildern der Intervallgrenzen verwenden. Wegen sin(−2π) = 0 und sin(9π/2) = sin(π/2 + 4π) = 1 ist zum Beispiel
∫10 2x dx = .
Die Frage nach der Injektivität der Substitutionsfunktion stellt sich in der Praxis eher selten, da eine nichtinjektive Substitution das Integrationsintervall unnötig mehrfach durchläuft. Benötigt wird die Injektivität zudem nur bei der Rücksubstitution. In bestimmten Integralen genügt es, beliebige Urbilder zu finden.