Obere und untere Schranken
Zur Formulierung der „Lückenlosigkeit“ von ℝ brauchen wir eine Reihe von Ordnungsbegriffen. Die meisten von ihnen sind anschaulich und suggestiv in ihrer Namensgebung.
Definition (obere und untere Schranke, beschränkt)
Seien X ⊆ ℝ und s ∈ ℝ. Dann heißt s eine obere Schranke von X, in Zeichen X ≤ s, falls für alle x ∈ X gilt, dass x ≤ s. Analog heißt s eine untere Schranke von X, in Zeichen s ≤ X, falls für alle x ∈ X gilt, dass s ≤ x. Die Menge X heißt nach oben (unten) beschränkt, falls eine obere (untere Schranke) von X existiert. Schließlich heißt X beschränkt, falls X nach oben und unten beschränkt ist. Andernfalls heißt X unbeschränkt.
Definition (Minimum und Maximum)
Seien X ⊆ ℝ und s ∈ ℝ. Dann heißt s das Maximum von X, in Zeichen s = max(X), falls s ∈ X und X ≤ s. Analog heißt s das Minimum von X, in Zeichen s = min(X), falls s ∈ X und s ≤ X.
Für a1, …, an ∈ ℝ setzen wir zur Vereinfachung der Notation
max(a1, …, an) = max({ a1, …, an }),
min(a1, …, an) = min({ a1, …, an }).
Wir betrachten nun besonders ausgezeichnete obere und untere Schranken einer Menge:
Definition (Supremum und Infimum)
Seien X ⊆ ℝ und s ∈ ℝ. Dann heißt s das Supremum oder die kleinste obere Schranke von X, in Zeichen s = sup(X), falls
s = min { t | X ≤ t }.
Analog heißt s das Infimum oder die größte untere Schranke von X, falls
s = max { t | t ≤ X }.
Eine Menge X reeller Zahlen mit unterer Schranke t und oberer Schranke s
Anschaulich erhalten wir das Infimum einer nach unten beschränkten nichtleeren Menge X reeller Zahlen, indem wir eine untere Schranke t von X betrachten und diese Schranke soweit nach rechts verschieben, bis sie die Menge X in folgendem Sinne berührt: Jede weitere Vergrößerung würde dazu führen, dass keine untere Schranke mehr vorliegt. Analoges gilt für das Supremum.
Wir fassen die Definitionen in einer Tabelle zusammen.
Begriff | Ausdruck | Definition |
s ist eine obere Schranke von X | X ≤ s | ∀x ∈ X x ≤ s |
s ist eine untere Schranke von X | s ≤ X | ∀x ∈ X s ≤ x |
s ist das Maximum von X | s = max(X) | s ∈ X ∧ X ≤ s |
s ist das Minimum von X | s = min(X) | s ∈ X ∧ s ≤ X |
s ist das Supremum von X | s = sup(X) | X ≤ s ∧ ∀t (X ≤ t → s ≤ t) |
s ist das Infimum von X | s = inf (X) | s ≤ X ∧ ∀t (t ≤ X → t ≤ s) |
Beispiele
(1) | [ 0, 1 ] ≤ 1, [ 0, 1 ] ≤ 2, [ 0, 1 [ ≤ 1, [ 0, 1 [ ≤ 2. |
(2) | max([ 0, 1 ]) = 1, max([ 0, 1 [) existiert nicht. |
(3) | sup([ 0, 1 ]) = 1, sup([ 0, 1 [) = 1. |
(4) | ℕ ⊆ ℝ ist nach unten, aber nicht nach oben beschränkt. Damit ist ℕ unbeschränkt in ℝ. |
(5) | max(ℕ) und sup(ℕ) existieren nicht, min(ℕ) = inf (ℕ) = 0. |
(6) | Sei X = { 1 − 1/n | n ∈ ℕ* } ⊆ ℚ. Dann gilt max(X) existiert nicht, sup(X) = 1 ∈ ℚ. Die Menge X ⊆ ℚ hat also ein Supremum in ℚ. |
(7) | Sei X = { q ∈ ℚ | q > 0 ∧ q2 ≤ 2 }. Dann ist X nach oben beschränkt (zum Beispiel durch 2). Es gilt max(X) existiert nicht, sup(X) = ∉ ℚ. Die Teilmenge X der rationalen Zahlen hat also kein Supremum in ℚ. Anschaulich können wir dies so beschreiben: Ist s ∈ ℚ eine obere Schranke von X, so können wir s durch Verkleinerung von rechts an X heranführen, wobei wir vereinbaren, jederzeit in der Menge der rationalen Zahlen zu verbleiben. Durch diese Einschränkung erreichen wir aufgrund der Irrationalität von nie das Supremum von X. Wir steuern auf einen Punkt zu, den es in ℚ nicht gibt. Jede rationale obere Schranke von X lässt sich immer noch zu einer rationalen oberen Schranke von X verkleinern. |
Das Maximum und Minimum einer Menge ist immer ein Element der Menge. Das Supremum einer Menge kann der Menge angehören oder auch nicht, und das Gleiche gilt für das Infimum. Es gelten die folgenden Implikationen:
(i) | Existiert max(X), so ist sup(X) = max(X). |
(ii) | Existiert min(X), so ist inf (X) = min(X). |
(iii) | Ist s = sup(X), so ist s = max(X ∪ { s }). |
(iv) | Ist s = inf (X), so ist s = min(X ∪ { s }). |
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun eine fundamentale Eigenschaft der reellen Zahlen, die sie von ℚ und anderen Zahlbereichen unterscheidet, axiomatisch fassen.