Anwendungen

 Wir diskutieren nun einige Anwendungen der Vollständigkeit der reellen Zahlen. Sie zeigen die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von oberen und unteren Schranken.

1.  Grenzwerte monotoner Folgen

 Als Erstes betrachten wir den Zusammenhang zwischen Grenzwert und Supremum/Infimum für einfache Folgen

x0,  x1,  x2,  …,  xn,  …

reeller Zahlen. Dabei verwenden wir den Grenzwertbegriff (und den Begriff einer Folge selbst) nach wie vor anschaulich. Eine genaue Definition geben wir im nächsten Kapitel.

 Um die Notation zu vereinfachen, schreiben wir

supn xnstatt  sup({ xn | n  ∈   }),  infn xnstatt  inf ({ xn | n  ∈   }).

 Der vielleicht einfachste Zusammenhang zwischen dem Grenzwert einer Folge und dem Supremum bzw. Infimum einer Menge ist:

Satz (Grenzwerte monotoner Folgen)

Sei x0, x1, …, xn, … eine Folge in . Dann gilt

(1)

Ist die Folge monoton steigend, d. h. xn ≤ xn + 1 für alle n, so gilt

limn xn  =  supn xn  ∈   ∪ { ∞ }.

(2)

Ist die Folge monoton fallend, d. h. xn ≥ xn + 1 für alle n, so gilt

limn xn  =  infn xn   ∈    ∪ { −∞ }.

 Der Leser erstelle Diagramme zur Visualisierung dieser Zusammenhänge.

Beispiele

(1)

Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = n für alle n ist monoton steigend. Es gilt limn xn = supn xn = ∞.

(2)

Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = 1/2n für alle n ist monoton fallend. Es gilt limn xn = infn xn = 0.

(3)

Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = (−1)n für alle n ist nicht monoton. Es gilt infn xn = −1 und supn xn = 1. Dagegen existiert limn xn nicht.

(4)

Die Folge 9/10, 99/100, 999/1000, … (10n − 1)/10n, … ist monoton steigend. Ihr Supremum (und damit ihr Grenzwert) ist gleich 1.

2.  Grenzwerte von Pendelfolgen

Definition (Pendelfolge)

Eine Folge x0, x1, …, xn, … reeller Zahlen heißt eine Pendelfolge, falls gilt:

xn + 2  ∈  [ min(xn, xn + 1), max(xn, xn + 1) ]  für alle n  ∈  .

Gilt x0 ≤ x1 (x0 ≥ x1), so heißt die Pendelfolge linksstartend (rechtsstartend).

Pendelfolgen haben die Form

x0 ≤ x2 ≤ … ≤ x2n ≤ … ≤ x2n + 1 ≤ … ≤ x3 ≤ x1,(Linksstart)

x1 ≤ x3 ≤ … ≤ x2n + 1 ≤ … ≤ x2n ≤ … ≤ x2 ≤ x0.(Rechtsstart)

 Wir beschränken uns auf den Linksstart. Analoge Ergebnisse gelten für den zweiten Typ. Allgemein genügt es, sich auf einen Typ zu konzentrieren, da die zwei Typen durch das Streichen des ersten Gliedes ineinander übergehen.

 Auch für Pendelfolgen können wir einen Zusammenhang zwischen Grenzwert und Supremum/Infimum herstellen:

Satz (Grenzwerte von Pendelfolgen)

Sei x0, x1, …, xn, …, eine linksstartende Pendelfolge in . Dann existiert der Grenzwert der Folge genau dann, wenn gilt:

infn (x2n + 1 − x2n)  =  0.(Konvergenzbedingung für Pendelfolgen)

In diesem Fall ist

limn xn  =  supn x2n  =  infn x2n + 1.

 Ist nämlich s = supn x2n und t = infn x2n + 1, so gilt s ≤ t. Die Konvergenzbedingung besagt, dass sich die geraden und ungeraden Glieder beliebig nahe kommen, sodass s = t. Genau dann ist s = t der Grenzwert der Folge. Die Folge

x1 − x0,  x3 − x2,  …,  x2n + 1 − x2n,  …

der Abstände der Paare einer linksstartenden Pendelfolge ist monoton fallend und nach unten beschränkt durch 0. Sie konvergiert also immer gegen ihr Infimum. Die Folge konvergiert genau dann, wenn dieses Infimum gleich Null ist.

 Viele Folgen der Analysis sind entweder monoton oder pendelnd (zumindest ab einer bestimmten Stelle n0). Damit decken diese Typen bereits zahlreiche Fälle ab. Noch allgemeinere konvergente Folgen, die um ihren Grenzwert beliebig hin und her springen können, betrachten wir nächsten Kapitel.

Beispiele

(1)

Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = (−1)n/2n für alle n ist eine rechtsstartende Pendelfolge mit 0 = limn xn = supn x2n + 1 = infn x2n.

(2)

Die Folge x0, x1, x2, … mit xn = (−1)n + 1 für alle n ist eine linksstartende Pendelfolge, die die Konvergenzbedingung nicht erfüllt.

3.  Intervallschachtelungen

Definition (Intervallschachtelung)

Eine Folge I0, I1, …, In, … von reellen Intervallen In heißt eine Intervallschachtelung, falls gilt

I0  ⊇  I1  ⊇  …  ⊇  In  ⊇  ….

 Für jede Intervallschachtelung können wir die Menge

I  =  ⋂n In  =  { x  ∈   | x  ∈  In für alle n  ∈   }

aller Punkte betrachten, die in jedem der Intervalle als Element enthalten sind. Das wichtigste Ergebnis über diese Schnittmenge ist:

Satz (Satz über Intervallschachtelungen)

Sei I0, I1, …, In, … eine Intervallschachtelung bestehend aus abgeschlossenen und beschränkten Intervallen In = [ an, bn ]. Weiter sei I = ⋂n In. Dann gilt

I  =  [ supn an,  infn bn ]  ≠  ∅.

Weiter gilt I = { supn an } = { infn bn } genau dann, wenn limn(bn − an) = 0.

Beweis

Die monotonen Folgen

a0, a1, … an, …  und  b0, b1, …, bn, …

der linken und rechten Intervallgrenzen sind aufgrund der Schachtelung der Intervalle monoton steigend bzw. fallend und zudem beschränkt, sodass sie gegen ihr Supremum a bzw. Infimum b konvergieren. Das Intervall [ a, b ] ist ein Teilintervall jedes Intervalls In und somit im Durchschnitt I der Intervalle enthalten. Andererseits können wegen a = supn an und b = infn bn keine weiteren Punkte in I enthalten sein, sodass I = [ a, b ]. Aus der Äquivalenz von limn(an − bn) = 0 und a = b ergibt sich der Zusatz.

 Der Durchschnitt einer Intervallschachtelung wie im Satz besteht genau dann aus genau einem Punkt, wenn die Folge der Intervall-Längen gegen Null konvergiert. Wir beobachten hierzu, dass die aus den Intervallgrenzen gebildete Folge

a0, b0, a1, b1, …, an, bn, …

eine linksstartende Pendelfolge ist. Gilt

limn an  =  a  =  b  =  limn bn,

so ist der Durchschnitt der Intervalle die einpunktige Menge { a } = { b }. Anschaulich ziehen sich die Intervalle auf den Punkt a = b zusammen.

4.  Die Dezimaldarstellung

 Wir betrachten endliche und unendliche Dezimalbrüche. Dabei beschränken wir uns auf nichtnegative reelle Zahlen. Für m  ∈   und Nachkommaziffern d1, …, dn  ∈  { 0, …, 9 } setzen wir

m, d1 … dn  =  m  +  d110  +  d2100  +  …  +  dn10n.(endlicher Dezimalbruch)

Lesen wir die Ziffernfolge d1 … dn als Dezimalzahl, so gilt

m, d1 … dn  =  m  +  d1…dn10n.

Wir erinnern an:

Charakterisierung der endlichen Dezimalbrüche

Genau die rationalen Zahlen q ≥ 0 der Form q = a/10n lassen sich als endlicher Dezimalbruch schreiben. In gekürzter Form sind dies genau die Brüche, deren Nenner nur die Primfaktoren 2 und 5 enthalten.

 Beispielsweise lassen sich also 1/5 und 3/20, nicht aber 1/7 oder 2/15 als endlicher Dezimalbruch schreiben.

 Mit Hilfe des Supremumsbegriffs können wir unendliche Dezimalbrüche definieren:

Definition (unendlicher Dezimalbruch)

Für m  ∈   und eine Folge (dn)n  ∈  in { 0, …, 9 } setzen wir

m, d1 d2 …  =  supn m, d1 … dn.(unendlicher Dezimalbruch)

 Statt „sup“ können wir auch „lim“ schreiben, da die Folge der endlichen Dezimalbrüche monoton steigend und nach oben beschränkt durch m + 1 ist.

 Jeder unendliche Dezimalbruch definiert eine eindeutige reelle Zahl x ≥ 0. Die Umkehrung ist im Allgemeinen nicht gültig. Dieses bedeutsame Phänomen lässt sich mit Hilfe der Definition als Supremum sehr einfach erklären:

Beispiel: Neuner-Periode

Es gilt 1 = 1,000… = 0,999… Denn nach Definition ist

0,999…=  supn 0,9…9 (mit n Stellen)
=  supn (1 − 1/10n)  =  1 − infn 1/10n  =  1 − 0  =  1.

Der Einwand, dass zu 1 in 0,999… immer noch „etwas fehlen“ würde, ist damit entkräftet: 0,999… ist definiert als Supremum einer Menge (oder gleichwertig als Grenzwert einer Folge), und ein Supremum muss einer Menge nicht angehören (ein Grenzwert nicht von den Folgengliedern angenommen werden).

 Allgemein gilt:

Charakterisierung der Nichteindeutigkeit

Jede reelle Zahl x ≥ 0 hat genau eine oder genau zwei unendliche Dezimaldarstellungen. Genauer gilt:

(1)

0 hat die eindeutige unendliche Dezimaldarstellung 0 = 0,000…

(2)

Eine reelle Zahl x > 0 hat genau dann zwei unendliche Darstellungen, wenn x von der Form m, d1 … dn ist mit dn ≠ 0. In diesem Fall gilt

x  =  m, d1 …dn000…(Nullfortsetzung)

x  =  m, d1(dn − 1)999…(Neuner-Periode)

 Damit ist die Darstellung einer irrationalen Zahl stets eindeutig. Aber auch rationale Zahlen wie 1/3 oder 1/7 haben eine eindeutige unendliche Dezimaldarstellung. Welche rationalen Zahlen sich eindeutig darstellen lassen, ergibt sich aus der obigen Charakterisierung der endlichen Dezimalbrüche.

 Wir betrachten zwei Möglichkeiten der Veranschaulichung oder, wenn man so will, Interpretation von Dezimalbrüchen:

Visualisierung 1:  Abmessen am Zahlstrahl

Die Dezimaldarstellung einer reellen Zahl x > 0 lässt sich anschaulich durch „Abmessen am Zahlenstrahl“ mit immer kleineren Maßstäben

1,  1/10,  1/100,  … 

beschreiben. Mit den so produzierten endlichen Dezimalbrüchen entstehen rationale Approximationen an x, die monoton steigend gegen x konvergieren. Erlauben wir, dass eine Approximation exakt gleich x ist, so ist eine in 0 auslaufende Folge von Approximationen möglich. Fordern wir dagegen, dass jede Approximation echt kleiner als x sein muss, so erhalten wir immer eine streng monoton steigende Folge von endlichen Dezimalbrüchen, die in manchen Fällen in der Ziffer 9 terminiert.

Visualisierung 2:  Verwendung von Bäumen

Ist x ein Element von [ 0, 1 [ , so können wir [ 0, 1 ] in 10 Teilintervalle

[ 0, 1/10 [ ,  [ 1/10, 2/10[ ,  …,  [ 9/10, 1 [

zerlegen und fragen, in welchem der Teile sich x befindet. So finden wir eine erste Dezimalstelle d1. Nun wiederholen wir das Verfahren mit dem Intervall [ d1/10, (d1 + 1)/10 [ und erhalten so d2. So fortfahrend ergibt sich die Darstellung x = 0, d1 d2 …, wobei wir im zweideutigen Fall (x ist eine der auftretenden Intervallgrenzen) die in 0 terminierende Darstellung erzeugen, da wir nach rechts offene Intervalle verwenden. Die Darstellung lässt sich als unendlicher Pfad in einem Baum auffassen, dessen Knoten mit Intervallen beschriftet sind und der sich an jedem Knoten zehnfach verzweigt.

5.  b-adische Darstellungen

 Eine natürliche Verallgemeinerung der Dezimaldarstellung ist die b-adische Darstellung für eine beliebige natürliche Basis b ≥ 2. Obige Definitionen werden übernommen, wobei nun anstelle der Menge { 0, …, 9 } von Nachkommastellen die Menge { 0, …, b − 1 } tritt und die Nenner 10n durch bn ersetzt werden. Die Dezimaldarstellung entspricht dem Fall b = 10. In der Mathematik, Informatik und Kulturgeschichte sind neben b = 10 vor allem bedeutsam:

b = 2Dualdarstellung
b = 3Ternärdarstellung
b = 16Hexadezimaldarstellung
b = 60Hexagesimaldarstellung

Für die Hexadezimaldarstellung verwendet man statt 0, …, 15 die Nachkommaziffern 0, …, 9, A, …, F, um keine Trennstellen in der Darstellung angeben zu müssen. Analoges gilt allgemein für b-adische Darstellungen mit b > 10.

Beispiele

(1)

In Dualdarstellung gilt

1  =  1,000…  =  0,111…  =  supn (1/2  +  1/4  +  1/8  +  …  +  1/2n).

(2)

In 7-adischer Darstellung gilt

1  =  1,000…  =  0,666…  =  supn (6/7  +  6/72  +  6/73  +  …  +  6/7n).

 Die beiden oben geschilderten Möglichkeiten der Visualisierung lassen sich leicht an den Fall einer allgemeinen b-adischen Darstellung anpassen. An die Stelle der Maßstäbe 1/10k treten die Maßstäbe 1/bk. Und die Bäume aus Intervallen sind nun b-fach statt 10-fach verzweigt.

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Baumdiagramm zur Dualdarstellung

6.  Ober- und Unterintegral

 Das Integral einer Funktion f : [ a, b ]   kann anstelle von Riemann-Summen mit Hilfe von Ober- und Unterintegralen definiert werden. Hierzu wird in jedem Intervall einer stützstellenfreien Partition p = (tk)k ≤ n von [ a, b ] das Supremum bzw. Infimum aller Funktionswerte des Intervalls gebildet. Dadurch entstehen Approximationen von oben und von unten:

Sp f  =  k ≤ n (tk + 1 − tk) supx  ∈  [ tk, tk + 1 ] f (x),(obere Darboux-Summe)

sp f  =  k ≤ n (tk + 1 − tk) infx  ∈  [ tk, tk + 1 ] f (x).(untere Darboux-Summe)

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Die obere und untere Darboux-Summe einer Funktion für eine stützstellenfreie Partition

 Die Funktion f wird bei der Bildung einer Darboux-Summe als beschränkt vorausgesetzt, damit die gebildeten Suprema und Infima in  definiert sind. Stützstellen und zugehörige Funktionswerte spielen keine Rolle. Wir setzen nun

S f  =  infp Spf,(Oberintegral)

s f  =  supp spf.(Unterintegral)

Das Infimum bzw. Supremum wird über alle Partitionen p des Intervalls [ a, b ] gebildet (wobei man sich auf äquidistante Partitionen beschränken kann). Es gilt stets s f ≤ S f. Man kann nun zeigen, dass f genau dann Riemann-integrierbar ist, wenn s f = S f gilt, d. h. wenn Ober- und Unterintegral übereinstimmen. Dieser Zugang zur Integration, oft auch Darboux-Integral genannt, ist also äquivalent zum Zugang über Riemann-Summen. Er ist theoretisch aufgrund des eleganten Kalküls mit Suprema und Infima ansprechend, aus numerischer Sicht aber weniger geeignet, da die Darboux-Summen im Vergleich zu den Riemann-Summen viel schwieriger zu berechnen sind. Wie so oft sind beide Wege wertvoll.