Kreisaufwicklung und Eulersche Formel

 Während die komplexe Exponentialfunktion formal der reellen gleicht, sind uns ihre Abbildungseigenschaften noch weitgehend unbekannt. Wir kennen die Funktion zunächst nur auf der x-Achse, da sie dort mit der reellen Exponentialfunktion zusammenfällt. Schreiben wir eine beliebige komplexe Zahl z in der Standardzerlegung z = x + i y mit x = Re(z) und y = Im(z), so gilt aufgrund des Additionstheorems

exp(z)  =  exp(x + iy)  =  exp(x) exp(i y).

Damit bleibt die Aufgabe, die Funktionswerte exp(i y)  ∈   für alle y  ∈   zu ermitteln: Wir müssen die Exponentialfunktion auf der imaginären Achse untersuchen. Ein allgemeiner Wert exp(z) = exp(x + iy) lässt sich als die Skalierung der komplexen Zahl exp(i y) mit dem positiven reellen Skalar exp(x) auffassen.

 Sei also y  ∈  . Wo in der komplexen Ebene liegt exp(i y)? Erneut ist es das Additionstheorem, das uns weiterhilft. Aus der Reihenentwicklung gewinnen wir

exp(z)  =  exp(z)  für alle z  ∈  .

Die Betragsformel |z|2 = z z für komplexe Zahlen liefert im Zusammenspiel mit dem Additionstheorem, dass

|exp(i y)|2 =  exp(i y) exp(i y)  =  exp(i y) exp(i y)  =  exp(i y) exp(− i y)
=  exp(iy − i y)  =  exp(0)  =  1.

Mit anderen Worten:

Die komplexe Exponentialfunktion bildet die imaginäre Achse auf den Einheitskreis ab.

Da dies in stetiger Form geschieht, wird die imaginäre Achse in einer noch näher zu ergründenden Art und Weise auf den Einheitskreis aufgewickelt, wobei

ei 0  =  e0  =  1  =  (1, 0).

Das Einfachste und Beste wäre eine längentreue Aufwicklung, sodass sich ei y gleichmäßig in y auf dem Einheitskreis bewegt und dabei ein Kreisbogen der Länge  durchlaufen wird, wenn y ein Intervall der Länge  durchläuft. Nehmen wir zusätzlich eine Kreisbewegung im bzw. gegen den Uhrzeigersinn für monoton steigende bzw. fallende y an, so würde einfach

ei y  =  (cos y, sin y)  =  cos y  +  i sin y  für alle y  ∈ 

gelten. Denn wie wir wissen stellt (cos y, sin y) eine Kreisbewegung in der Variablen y mit den beschriebenen Eigenschaften dar. Der folgende Satz besagt, dass all dies in der Tat der Fall ist. Es gilt (wobei wir wieder x anstelle von y als Variable verwenden):

Satz (Kreisaufwicklung, Eulersche Formel)

Für alle x  ∈   gilt

exp(i x)  =  (cos x, sin x)  =  cos(x)  +  i sin(x).(Eulersche Formel)

 Wir geben zwei Beweise dieses fundamentalen Ergebnisses.

Beweis 1: Potenzreihenentwicklung

Sei x  ∈  . Dann gilt unter Verwendung der Potenzreihenentwicklungen des Kosinus und Sinus:

ei x =  n (ix)nn!  =  1  +  i x  +  i2 x22  +  …  +  in xnn!  +  …
=  1  +  i x  −  x22  −  i x33!  +  x44!  +  i x55!x  −  x66!  −  i x77!  +  …
=  n (−1)n x2n(2n)!  +  i n (−1)nx2n + 1(2n + 1)!
=  cos x  +  i sin x.
Beweis 2: Ableiten

Wir wissen bereits, dass eix für alle x  ∈   auf dem Einheitskreis liegt, wobei ei 0 = (1, 0) = 1 cos(0) + i sin(0). Damit gibt es eine Funktion φ :    mit

(1)  eix  =  cos(φ(x))  +  i  sin(φ(x))  für alle x  ∈    (2)  φ(0)  =  0.

Ein Wert φ(x) gibt den bis auf ein ganzzahliges Vielfaches von 2π eindeutig bestimmten Winkel von eix an. Indem wir die Funktionswerte in ganz  (und nicht nur in [ 0, 2π [) wählen, können wir erreichen, dass φ differenzierbar ist. Wir zeigen, dass φ(x) = x für alle x  ∈  . Für alle x  ∈   gilt (unter Verwendung der auch in  gültigen elementaren Ableitungsregeln):

− sin(φ(x))  +  i cos(φ(x)) =  i eix  =  ddx eix
=  ddx (cos(φ(x)) + i sin(φ(x)))
=  − sin(φ(x)) φ′(x)  +  i cos(φ(x)) φ′(x)
=  (− sin(φ(x))  +  i cos(φ(x))) φ′(x).

Damit ist φ′(x) = 1 für alle x  ∈  . Folglich gibt es ein c  ∈   mit φ(x) = x + c für alle x  ∈  . Wegen φ(0) = 0 ist c = 0. Folglich ist f (x) = x für alle x  ∈  .

 Spezielle Werte der Kreisaufwicklung sind:

exp(0)  =  1,  exp(i π/2)  =  i,  exp(i π)  =  −1,  exp(i 3π/2)  =  −i,  exp(i 2π)  =  1.

Die dritte Aussage ist die berühmte Eulersche Identität. Leicht umformuliert lautet sie:

Korollar (Eulersche Identität)

ei π + 1  =  0.

Damit sind die fünf fundamentalen mathematischen Größen 0, 1, i, π und e in einer Aussage vereint.

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Werte der komplexen Exponentialfunktion am Einheitskreis

 Aus exp(i 2π) = 1 erhalten wir

Korollar (Periodizität)

Für alle z  ∈   und k  ∈   gilt exp(z + i k2π)  =  exp(z).

Beweis

Seien z  ∈   und k  ∈  . Dann gilt

exp(z + i k 2π)  =  exp(z) exp(i k 2π)  =  exp(z) exp(i 2π)k  =  exp(z) 1k  =  exp(z).

 Aufgrund ihrer Periodizität ist die komplexe Exponentialfunktion durch ihre Werte auf dem Streifen  × [ 0, 2π [ bestimmt. Die Funktion wiederholt sich, wenn wir mehrere derartige Streifen übereinander oder untereinander legen.

 Wir fassen zusammen:

Anschauliche Beschreibung der komplexen Exponentialfunktion

Sei p  ∈   ein Punkt der Ebene, und sei exp(p)  ∈   sein Bild unter der komplexen Exponentialfunktion. Bewegen wir uns, in p startend, in der Variablen z parallel zur x-Achse, so bewegt sich exp(z) auf der Halbgeraden, die von 0 durch exp(p) führt (positive Skalierung von exp(p)). Dabei erreicht exp(z) bei einer Bewegung nach links nie die Null, entfernt sich dagegen bei einer Bewegung nach rechts mit exponentieller Geschwindigkeit. Bewegen wir uns in p startend in der Variablen z parallel zur y-Achse, so dreht sich f (z) auf dem Kreis mit Radius r = |f (p)| durch den Nullpunkt. Die Kreisbewegung erfolgt gegen den Uhrzeigersinn bei einer Bewegung nach oben und im Uhrzeigersinn bei einer Bewegung nach unten. Ein Kreisdurchlauf von f (z) der Länge 2rπ benötigt das Durchlaufen eines Intervalls der Länge 2π in z. Von p ausgehende Bewegungen in der Variablen z, die sowohl einen waagrechten als auch einen senkrechten Anteil besitzen, führen zu in f (p) ihren Ausgang nehmenden Spiralbewegungen von f (z).

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Die Verzerrung des kartesischen Gitters durch die komplexe Exponentialfunktion (oben) und das Bild zweier Geraden unter exp (unten)

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Visualisierung der Kreisaufwicklung mit Hilfe der Exponentialreihe: Für die angegebenen n ist das Bild von [ 0, ∞ [ unter den Partialsummen

sn(i x)  =  k ≤ n (ix)k/k!  für alle x  ∈ 

gezeigt. Ab etwa n = 20 ist eine sehr gute Aufwicklung des Intervalls [ 0, 2π ] erreicht. Bemerkenswert sind relativ scharfe Wendungen wie bei n = 11.

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Visualisierung der Kreisaufwicklung durch ein Pfeildiagramm:

Wirkung der Exponentialfunktion auf der Menge { ix | x  ∈  [ −π, π ] }

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Zum Kontrast: Wirkung der Exponentialfunktion auf dem Einheitskreis

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Die Mengen Asn = { z | Re(sn(z)) = 0 } und Bsn = { z | Im(sn(z)) = 0 } für die Polynome

sn(z)  =  k ≤ n zk/k!  mit n = 5, 10, 15, 20, 25.

(Der Leser vgl. den ersten anschaulichen Beweis des Fundamentalsatzes.) Im letzten Diagramm sind Aexp = { z | Re(exp(z)) = 0 } und Bexp = { z | Im(exp(z)) = 0 } gezeigt. Die waagrechten Linien verlaufen im Abstand π/2 voneinander.

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Farbplot der komplexen Exponentialfunktion exp(z)  =  n ≥ 0 zn/n! Radiales Gitter: exp(−3), exp(−2), …, exp(3)

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Farbplot des Polynoms s3(z)  =  1 + z + z2/2 + z3/6 Radiales Gitter wie oben

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Farbplot des Polynoms s5(z)  =  k ≤ 5 zk/k! Radiales Gitter wie oben