Anwendungen der Eulerschen Formel
Wir diskutieren einige Anwendungen der Eulerschen Formel
ei x = cos x + i sin x für alle x ∈ ℝ.
1. Additionstheoreme für Kosinus und Sinus
Zu den bestechendsten Anwendungen der Eulerschen Formel gehört die simultane Herleitung der Additionstheoreme für den Kosinus und Sinus. Für alle x, y ∈ ℝ gilt:
cos(x + y) + i sin(x + y) | = ei (x + y) |
= ei x + i y | |
= ei x ei y | |
= (cos x + i sin x) (cos y + i sin y) | |
= cos x cos y − sin x sin y + i (cos x sin y + cos y sin x) |
Vergleich von Real- und Imaginärteil liefert
cos(x + y) = cos x cos y − sin x sin y,
sin(x + y) = cos x sin y + cos y sin x.
Damit haben wir beide Additionstheoreme in wenigen Zeilen erhalten. Das Argument ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie der Einsatz der komplexen Zahlen den reellen Kalkül vereinfachen kann. Effizient, elegant, magisch.
2. Angabe der Einheitswurzeln
Sei n ≥ 1, und seien wieder
ζnk = (cos (k 2πn), sin (k 2πn)) für k ∈ ℤ,
sodass ζn0, …, ζnn − 1 die n-ten Einheitswurzeln sind. Dann gilt
ζnk = ei k 2π/n für alle k ∈ ℤ.
Durch diese Darstellung wird das Rechnen mit den Einheitswurzeln vereinfacht. So gilt zum Beispiel für alle ganzzahligen k und m
ζnk ζnm = exp(ik 2π/n) exp(im 2π/n) = exp(i (k + m) 2π/n) = ζnk + m.
3. Reihenentwicklungen des Kosinus und Sinus
Kennt man die komplexe Exponentialreihe, so lassen sich die Reihenentwicklungen des Kosinus und Sinus leicht reproduzieren (vgl. die Argumentation im ersten Beweis der Eulerschen Formel):
cos x + i sin x | = ei x = ∑n (ix)nn! = |
= 1 + i x − x22 − i x33! + x44! + i x55!x − x66! − i 737! + … | |
= ∑n (−1)n x2n(2n)! + i ∑n (−1)n x2n + 1(2n + 1)!. |
4. Ableitungen des Kosinus und Sinus
Die Ableitungen des Kosinus und Sinus lassen sich ebenfalls mit der Eulerschen Formel reproduzieren (vgl. die Argumentation im zweiten Beweis):
cos′ x + i sin′ x | = ddx (cos x + i sin x) = ddx eix = i eix = |
= i (cos x + i sin x) = −sin x + i cos x. |
Vergleich von Real- und Imaginärteil ergibt cos′ = − sin und sin′ = cos. Das Argument ist die komplexe Version unserer dynamischen Ermittlung der Ableitungen des Kosinus und Sinus über eine gleichmäßige Bewegung auf dem Einheitskreis. Die Drehung des Koordinatenvektors (cos x, sin x) um π/2 zum Geschwindigkeitsvektor (−sin x, cos x) entspricht der Multiplikation mit i bei der Ableitung von eix.
Bemerkung
Es ist möglich, die komplexe Exponentialfunktion bei einem Aufbau der Analysis an die Spitze zu stellen und die trigonometrischen Funktionen durch
cos(x) = Re(eix), sin(x) = Im(eix) für alle x ∈ ℝ
zu definieren. Bei diesem Vorgehen lassen sich die Additionstheoreme, die Reihenentwicklungen und die Ableitungen des Kosinus und Sinus mit obigen Argumenten beweisen. Weiter ergibt sich eine analytische Definition von π, indem π/2 als die erste positive Nullstelle des Kosinus oder alternativ 2π als die Periode von exp festlegt wird. Dann ist aber zu zeigen, dass die analytische Größe π mit der geometrischen Größe π übereinstimmt. Allgemeiner muss die Längentreue der Kreisaufwicklung nachgewiesen werden, die bei diesem Ansatz keineswegs klar ist.