Der Satz des Pythagoras und die Euklidische Norm
Wir setzen den Satz des Pythagoras als bekannt voraus. Die beiden folgenden Diagramme illustrieren das zeitlose Ergebnis und zeigen Möglichkeiten auf, den Satz mit Hilfe von Flächeninhalten bzw. Streckenverhältnissen zu beweisen.
Die Fläche des großen Quadrats ist (a + b)2 und die Fläche der vier Dreiecke ist 2ab. Damit ist c2 = (a + b)2 − 2ab = a2 + b2.
Die Dreiecke PQR und PSR sind ähnlich, sodass
c + ab = bc − a.
Folglich ist c2 − a2 = (c + a) (c − a) = b2 und damit a2 + b2 = c2.
Motiviert durch den Satz des Pythagoras definieren wir:
Definition (Euklidische Norm bzw. Länge)
Sei n ≥ 1. Dann setzen wir für alle v ∈ ℝn:
∥ v ∥ = .
Die reelle Zahl ∥v∥ heißt die Euklidische Norm oder Länge des Vektors v.
∥v∥ =
Beispiele
(1) | Für die Dimension n = 2 gilt ∥ (3, 4) ∥ = = = 5. |
(2) | Für die Dimension n = 2 gilt ∥ (1, 1) ∥ = . Für die Dimension n = 3 gilt ∥ (1, 1, 1) ∥ = . Allgemein gilt im ℝn, dass ∥ (1, …, 1) ∥ = . |
(3) | Für jede Dimension n und alle 1 ≤ k ≤ n gilt ∥ ek ∥ = 1. |
Für n = 1 und n = 2 fällt die Euklidische Norm mit dem reellen bzw. komplexen Betrag zusammen. Wir verwenden Betragsstriche, wenn der skalare Aspekt im Vordergrund steht und Doppelstriche für die vektorielle Sicht.
Wir sagen auch kurz Norm oder Länge, weisen aber darauf hin, dass es auch viele andere Möglichkeiten gibt, einen Vektor zu messen. Eine davon ist:
Beispiel
Die Maximumsnorm auf dem ℝn ist definiert durch
∥v∥max = max(|v1|, …, |vn|) für alle v ∈ ℝn.
Für die Dimension n = 2 gilt zum Beispiel
∥ (1, 1) ∥ = , ∥ (1, 1) ∥max = 1.
Beim Rechnen mit der Euklidischen Norm führen die auftretenden Wurzeln oft zu unübersichtlichen Termen. Es kann hilfreich sein, das Quadrat
∥v∥2 = v12 + … + vn2
der Norm der Vektors zu berechnen und erst am Ende die Wurzel zu ziehen.
Vektoren der Länge Eins spielen an vielen Stellen eine besondere Rolle:
Definition (normiert, Normierung)
Sei n ≥ 1. Ein Vektor v ∈ ℝn heißt normiert, falls ∥v∥ = 1. Für alle v ∈ ℝn mit v ≠ 0 definieren wir die Normierung von v durch
v̂ = v∥v∥.
Weiter setzen wir v̂ = v = 0 ∈ ℝn, falls v = 0.
Beispiele
(1) | Im ℝn sind alle Einheitsvektoren e1, …, en normiert. |
(2) | Für n = 2 ist ein Vektor v genau dann normiert, wenn er auf dem Einheitskreis K liegt. Für alle α ∈ ℝ ist (cos α, sin α) normiert. |
Für alle Vektoren v ≠ 0 ist der Vektor v̂ (gelesen: „v Hut“ oder „v Dach“) normiert. Es gilt
(+) v = ∥v∥ v̂ für alle v ∈ ℝn.
Die Normierung lässt sich als Projektion eines Vektors auf den Einheitskreis K ansehen
Bei vielen Argumenten kann man sich darauf beschränken, die gewünschte Eigenschaft nur für normierte Vektoren zu zeigen. Für allgemeine Vektoren folgt sie dann durch die Skalierung (+). Zudem vereinfacht die Verwendung von v̂ auch viele Formeln, bei denen durch die Norm dividiert wird.
Die grundlegenden Eigenschaften der Euklidischen Norm sind:
Satz (Eigenschaften der Euklidischen Norm)
Sei n ≥ 1. Dann gilt für alle λ ∈ ℝ und alle v, w ∈ ℝn:
(i) | ∥v∥ = 0 genau dann, wenn v = 0, |
(ii) | ∥ λ v ∥ = |λ| ∥v∥, |
(iii) | ∥ v + w ∥ ≤ ∥v∥ + ∥w∥.(Dreiecksungleichung) |
Die dritte Eigenschaft besagt anschaulich, dass der direkte Weg von 0 nach v + w höchstens so lang ist wie der direkte Weg von 0 nach v gefolgt vom Weg von v nach v + w.
Zur Dreiecksungleichung
Die anschaulich klare Aussage, dass der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten eine Gerade ist, ist keineswegs leicht zu beweisen. Im folgenden Beweis verwenden wir eine fundamentale Abschätzung, die sich aus der zweiten binomischen Formel ergibt.
Beweis
Die Eigenschaften (i) und (ii) ergeben sich unschwer aus den Definitionen. Zum Beweis der Dreiecksungleichung verwenden wir:
(+) 2 x y ≤ x2 + y2 für alle x, y ∈ ℝ.
Diese Ungleichung folgt aus 0 ≤ (x − y)2 = x2 − 2xy + y2 für alle x, y ∈ ℝ.
Seien nun v, w ∈ ℝn beliebig. Dann ergibt eine n-fache Anwendung von (+):
2 (v̂1 ŵ1 + … + v̂n ŵn) | ≤ v̂12 + ŵ12 + … + v̂n2 + ŵn2 |
= ∥ v̂ ∥2 + ∥ ŵ ∥2 = 1 + 1 = 2. |
Division durch 2 und Multiplikation mit den Normen von v und w liefert:
(◇) v1 w1 + … + vn wn ≤ ∥v∥ ∥w∥.
Damit können wir nun rechnen:
∥ v + w ∥2 | = (v1 + w1)2 + … + (vn + wn)2 |
= ∥v∥2 + ∥w∥2 + 2(v1 w1 + … + vn wn) | |
≤ ∥v∥2 + ∥w∥2 + 2 ∥v∥ ∥w∥ | |
≤ (∥v∥ + ∥w∥)2. |
Wurzelziehen erhält die Ungleichung (da die Wurzelfunktion monoton steigt) und liefert die Behauptung.
Die Ungleichung (◇), aus der wir die Dreiecksungleichung gewinnen konnten, leitet über zu unserem nächsten Zwischenabschnitt: