Die Winkelformel für das Euklidische Skalarprodukt
Unsere erste Aufgabe ist die Ermittlung der geometrischen Bedeutung des Euklidischen Skalarprodukts. Wir definieren hierzu:
Definition (eingeschlossener Winkel)
Seien v, w ∈ ℝ2 mit v, w ≠ 0. Dann setzen wir
∡(v, w) = „der von v und w eingeschlossene Winkel in [ 0, π ]“.
Der Winkel ∡(v, w) hat keine Orientierung und liegt immer zwischen 0 und π. Es gilt ∡(v, w) = ∡(w, v) und ∡(v, w) = ∡(v̂, ŵ). Der Winkel zwischen zwei Vektoren ist nicht definiert, wenn einer der Vektoren der Nullvektor ist.
Von großer Bedeutung ist:
Satz (Winkelformel)
Seien v, w ∈ ℝ2 von 0 verschieden, und sei φ = ∡(v, w). Dann gilt:
cos φ = 〈 v̂, ŵ 〉 = 〈 v, w 〉∥v∥ ∥w∥, φ = arccos(〈 v̂, ŵ 〉).(Winkelformel)
Zur Winkelformel: cos φ = 〈 v̂, ŵ 〉
Für alle v, w ∈ ℝ2 mit v, w ≠ 0 gilt also
〈 v, w 〉 = cos(φ) ∥v∥ ∥w∥.
Wir geben zwei Beweise für die Winkelformel. Der erste kombiniert den Kosinussatz mit der zweiten binomischen Formel für das Skalarprodukt.
Beweis mit Hilfe des Kosinussatzes
Seien v, w ∈ ℝ2 mit v, w ≠ 0. In einem Dreieck ABC mit Seiten a, b, c und Winkeln α, β, γ gilt:
a2 = b2 + c2 − 2 cos(α) b c.(Kosinussatz)
Für das Dreieck mit den Ecken A = 0, B = w und C = v gilt
(i) | a = ∥ v − w ∥, b = ∥v∥, c = ∥w∥, |
(ii) | α = ∡(v, w) = φ. |
Der Kosinussatz für dieses Dreieck liest sich nun in der Form
(1) ∥ v − w ∥2 = ∥v∥2 + ∥w∥2 − 2 cos(φ) ∥v∥ ∥w∥.
Nach der zweiten binomischen Formel für das Skalarprodukt gilt aber
(2) ∥ v − w ∥2 = ∥v∥2 + ∥w∥2 − 2 〈 v, w 〉.
Durch Vergleich von (1) und (2) erhalten wir
cos(φ) ∥v∥ ∥w∥ = 〈 v, w 〉.
Zum Beweis der Winkelformel mit Hilfe des Kosinussatzes
Der Kosinussatz lässt sich mit Hilfe des Satzes von Pythagoras beweisen (das linke Diagramm enthält zwei rechtwinklige Dreiecke. Wir überlassen den Beweis dem Leser als Übung. Dabei sind neben spitzwinkligen auch stumpfwinklige Dreiecke zu betrachten. Der Kosinussatz ist für alle Dreiecke gültig.
Unser zweiter Beweis verwendet des Additionstheorem:
Beweis mit Hilfe des Additionstheorems für den Kosinus
Seien v, w ∈ ℝ2 mit v, w ≠ 0. Wir dürfen annehmen (nach evtl. Vertauschung von v und w), dass es x1, y1, x2, y2, φ1, φ2 ∈ ℝ gibt mit
(i) | v̂ = (x1, y1) = (cos φ1, sin φ1), |
(ii) | ŵ = (x2, y2) = (cos φ2, sin φ2), |
(iii) | φ1 ≤ φ2 ≤ φ1 + π. |
Dann ist
φ = φ2 − φ1 = ∡(v, w).
Nach dem Additionstheorem für den Kosinus gilt
cos φ | = cos(φ2 − φ1) |
= cos φ2 cos φ1 − sin φ2 sin (−φ1) | |
= cos φ1 cos φ2 + sin φ1 sin φ2 | |
= x1 x2 + y1 y2 | |
= 〈 v̂, ŵ 〉. |
Wir betrachten nun einige Anwendungen der Winkelformel.
1. Die Ungleichung von Cauchy-Schwarz
Aus der Winkelformel ergibt sich wegen cos φ ∈ [ −1, 1 ] noch einmal die Ungleichung von Cauchy-Schwarz. Denn für v = 0 oder w = 0 ist die Ungleichung klar und für v, w ≠ 0 ist
|〈 v, w 〉| = |cos φ| ∥v∥ ∥w∥ ≤ ∥v∥ ∥w∥.
2. Der Kosinussatz
Ist die Winkelformel in irgendeiner Art und Weise einmal bewiesen, so ergibt sich aus ihr der Kosinussatz. Denn mit den Bezeichnungen des obigen Beweises gilt für ein Dreieck ABC mit den Ecken A = 0, B = w und C = v:
a2 | = ∥ v − w ∥2 |
= ∥v∥2 + ∥w∥2 − 2 〈 v, w 〉. | |
= ∥v∥2 + ∥w∥2 − 2 cos(α) ∥v∥ ∥w∥ | |
= b2 + c2 − 2 cos(α) b c. |
3. Orthogonalität
Definition (orthogonal, aufeinander senkrecht stehen)
Seien v, w ∈ ℝ2. Wir sagen, dass v und w orthogonal sind oder aufeinander senkrecht stehen, falls 〈 v, w 〉 = 0.
Die Orthogonalität ist auch für Nullvektoren erklärt. Der Nullvektor ist orthogonal zu jedem Vektor der Ebene. Für vom Nullvektor verschiedene Vektoren v, w mit eingeschlossenem Winkel φ ∈ [ 0, π ] ist die Orthogonalität nach der Winkelformel äquivalent zu cos φ = 0 und damit zu φ = π/2.
4. Kollinearität
Definition (kollinear, parallel, antiparallel)
Seien v, w ∈ ℝ2. Wir sagen, v und w sind
kollinear, | falls | |〈 v, w 〉| = ∥v∥ ∥w∥, |
parallel, | falls | 〈 v, w 〉 = ∥v∥ ∥w∥, |
antiparallel, | falls | 〈 v, w 〉 = − ∥v∥ ∥w∥. |
Die Ungleichung von Cauchy-Schwarz ist also genau für kollineare Vektoren eine Gleichung. Für v, w ≠ 0 entsprechen die drei Begriffe „kollinear, parallel, antiparallel“ nach der Winkelformel genau den eingeschlossenen Winkeln φ ∈ { 0, π }, φ = 0, φ = π.
Beispiele
(1) | Der Nullvektor ist mit jedem v ∈ ℝ2 kollinear. |
(2) | Die Vektoren (1, 4) und (−2, −8) sind antiparallel und damit kollinear. Für alle y ≠ 8 sind die Vektoren (1, 4) und (2, y) nicht kollinear. |
Der folgende Satz, dessen Beweis wir dem Leser zur Übung überlassen, versammelt einige Äquivalenzen zur Kollinearität zweier Vektoren.
Satz (Kriterien für Kollinearität)
Seien v, w ∈ ℝ2. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent:
(a) | Die Vektoren v, w sind kollinear. |
(b) | v = 0 ∨ ∃λ ∈ ℝ λv = w. |
(c) | ∃λ, μ ∈ ℝ (λv + μ w = 0 ∧ (λ ≠ 0 ∨ μ ≠ 0)). |
(d) | v, w liegen auf einer gemeinsamen Geraden durch 0, d. h. es gibt ein u ∈ ℝ2 mit u ≠ 0 und v, w ∈ G(u) = { λu | λ ∈ ℝ }. |
Sind v, w ≠ 0, so sind v, w genau kollinear, wenn G(v) = G(w). Da der Nullvektor keine Gerade definiert, ist die Voraussetzung v, w ≠ 0 wichtig.
5. Die orthogonale Projektion
Definition (orthogonale Projektion)
Wir setzen für alle u, v ∈ ℝ2:
pru(v) = 〈 û, v 〉 û.(Projektionsformel)
Der Vektor pru(v) ∈ ℝ2 heißt die (orthogonale) Projektion des Vektors v auf den Vektor u.
Die Projektionen der Vektoren v1 und v2 auf den Vektor u
Die Vektoren u und pru(v) sind nach Definition kollinear. Die Bezeichnung als orthogonale Projektion wird dadurch erklärt, dass pru(v) und w = v − pru(v) aufeinander senkrecht stehen:
〈 pru(v), w 〉 | = 〈 pru(v), v 〉 − 〈 pru(v), pru(v) 〉 |
= 〈 〈 û, v 〉 û, v 〉 − 〈 〈 û, v 〉 û, 〈 û, v 〉 û 〉 | |
= 〈 û, v 〉 〈 û, v 〉 − 〈 û, v 〉 〈 û, v 〉 〈 û, û 〉 | |
= 〈 û, v 〉2 − 〈 û, v 〉2 = 0. |
Als Merkhilfe können wir verwenden:
Zur Struktur der Projektionsformel
(1) | Die Projektion von v auf u ist unabhängig von der Länge von u und damit ein skalares Vielfaches von û. |
(2) | Die Projektion von λv auf u ist das λ-fache der Projektion von v auf u. |
Dies erklärt das Vorhandensein bzw. Fehlen der Normen bei u bzw. v.
Ist der Vektor u normiert, so gilt pru(v) = 〈 u, v 〉 u und damit
∥ pru(v) ∥ = |〈 u, v 〉|.
Der Betrag des Skalarprodukts von u und v ist in diesem wichtigen Fall also die Euklidische Länge der Projektion von v auf u. Allgemein gilt ∥ pru(v) ∥ = |〈 û, v 〉|.
Wir halten noch fest: Die Vektoren u und v sind genau dann orthogonal, wenn
pru(v) = prv(u) = 0,
und genau dann kollinear, wenn
pru(v) = v und prv(u) = u.