Die Länge einer Kurve
Ähnlich wie „Fläche zwischen Graph und x-Achse“ können wir „Länge einer Kurve“ für Kurven mit hinreichend guten Eigenschaften definieren. Wie so oft in der Analysis geschieht dies durch Approximation und Grenzwertbildung. Zur Approximation verwenden wir Polygon-Züge:
Definition (Polygon-Approximation)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve, und sei p = (tk)k ≤ n eine (stützstellenfreie) Partition von [ a, b ]. Dann setzen wir
Lp f = ∑k ≤ n ∥ f(tk + 1) − f (tk) ∥ (wobei wieder tn + 1 = b).
Die reelle Zahl Lp f ist die Euklidische Länge des durch die Punkte
f (a) = f (t0), f (t1), f (t2), …, f (tn), f(tn + 1) = f (b)
definierten Polygon-Zugs im ℝm. Je feiner die Partition p ist, desto mehr nähert sich Lp f anschaulich der Länge der Kurve f an.
Zwei Polygon-Approximationen an die Kurve des obigen Beispiels. In der zweiten Approximation werden die Zerlegungspunkte k π/12, k = 0, …, 24 verwendet.
Diese Überlegungen motivieren:
Definition (rektifizierbar, Länge)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve. Dann heißt f rektifizierbar, falls
L(f) = limδ(p) → 0 Lp f
existiert. In diesem Fall heißt L(f) die (Euklidische) Länge von f.
Der Grenzwert
c = limδ(p) → 0 Lp f
bedeutet, dass für jede Folge (pn)n ∈ ℕ von Partitionen von [ a, b ], deren Feinheiten gegen Null konvergieren, die Folge (Lpn f)n ∈ ℕ der Längen der zugehörigen Polygon-Approximationen gegen den gleichen reellen Wert c konvergiert. Der Leser vergleiche dies mit der Definition des Riemann-Integrals.
Der Hauptsatz zur Längenberechnung einer Kurve lautet:
Satz (Längenformel für stetig differenzierbare Kurven)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine stetig differenzierbare Kurve. Dann ist f rektifizierbar und es gilt
L(f) = ∫ba ∥ f ′(t) ∥ dt.(Längenformel)
Der Beweis wird in der Analysis geführt. Wir begnügen uns hier mit einem dynamischen Argument, durch das die Formel plausibel wird: Nach der Formel „Weg ist Geschwindigkeit mal Zeit“ können wir ∥ f ′(t) ∥ dt als den infinitesimal zurückgelegten Weg auffassen. Im Integral werden diese infinitesimalen Wege zur Gesamtlänge des zurückgelegten Weges aufsummiert.
Beispiel 1: Kreisumfang
Seien r > 0 und [ a, b ] ein reelles Intervall. Wir definieren die stetig differenzierbare Kurve f : [ a, b ] → ℝ2 durch
f (t) = r eit = r (cos t, sin t) für alle t ∈ [ a, b ].
Dann gilt ∥ f ′(t) ∥ = r für alle t ∈ [ a, b ]. Damit ist
L(f) = ∫ba ∥ f ′(t) ∥ dt = ∫ba r dt = r (b − a).
Für [ a, b ] = [ 0, 2π ] ergibt sich der Umfang r2π eines Kreises mit Radius r. Die Längenberechnung berücksichtigt allgemeiner aber auch teilweise und mehrfache Durchläufe des Kreises. So ergibt sich zum Beispiel die Länge 2krπ für Intervalle der Form [ 0, 2kπ ].
Beispiel 2: Parabelbogen
Wir berechnen die Länge eines Parabelbogens. Sei hierzu [ a, b ] ein reelles Intervall, und sei f : [ a, b ] → ℝ2 definiert durch
f (t) = (t, t2) für alle t ∈ [ a, b ].
Die stetig differenzierbare Kurve f durchläuft den durch das Intervall [ a, b ] definierten Bogen der Einheitsparabel. Es gilt
f ′(t) = (1, 2t), ∥ f ′(t) ∥2 = 1 + 4t2 für alle t ∈ [ a, b ].
Zur Berechnung der Länge von f verwenden wir, dass
∫ dt = 12 (t + c2 log(t + )) für alle c ∈ ℝ.
Mit c = 1/2 erhalten wir
L(f) | = ∫ba ∥ f ′(t) ∥ dt = ∫ba dt |
= 2 ∫ba dt | |
= . |
Für das Intervall [ a, b ] = [ 0, 1 ] ergibt sich
L(f) | = + 14 log(1 + ) − 14 log(12) |
= + 14 log(2 + ) = 1,4789… |
Zum Vergleich: Die Länge der Diagonale des Einheitsquadrats ist gleich = 1,4142… Wir machen also keinen allzu großen Umweg, wenn wir anstelle der Diagonale auf dem Parabelbogen von (0, 0) nach (1, 1) laufen.
Beispiel 3: Umfang einer Ellipse
Seien a ≥ b > 0. Wir berechnen den Umfang der achsenparallelen Ellipse
Ea, b = { (x, y) ∈ ℝ2 | (x/a)2 + (y/b)2 = 1 }
mit den Halbachsen a und b. Eine (traditionelle) Parametrisierung von Ea, b ist gegeben durch die Kurve f : [ 0, 2π ] → ℝ2 mit
f (t) = (a sin t, b cos t) für alle t ∈ [ 0, 2π ].
Die Kurve durchläuft die Ellipse startend im Punkt (0, b) im Uhrzeigersinn. Sie ist stetig differenzierbar mit
f ′(t) = (a cos t, − b sin t) für alle t ∈ [ 0, 2π ].
Für alle φ ∈ [ 0, 2π ] gilt
L(f↾[ 0, φ ]) | = ∫φ0 ∥ f ′(t) ∥ dt = ∫φ0 dt |
= a ∫φ0 dt, |
wobei wir a2 cos2 t = a2(1 − sin2 t) verwendet und
ε = ∈ [ 0, 1 [ (numerische Exzentrizität von Ea,b)
gesetzt haben. Man kann zeigen, dass für ε ≠ 0 keine elementare Stammfunktion des Integranden
existiert. Der Versuch, die Länge der Bögen einer Ellipse Ea, b mit den Halbachsen a ≠ b zu berechnen, gibt also Anlass zur Einführung einer neuen nichtelementaren Funktion. Für ε ∈ [ 0, 1 [ und φ ∈ ℝ ist das elliptische Integral zweiter Art definiert durch
E(φ, ε) = ∫φ0 dt.
Der Umfang der Ellipse Ea, b berechnet sich zu a E(2π, ε). Im Gegensatz zur Flächenberechnung ist das Problem der Umfangsberechnung einer Ellipse also deutlich schwieriger. Es sprengt den Rahmen der elementaren Funktionen.
Das elliptische Integral E(φ, ε) zweiter Art auf [ 0, 2π ] für einige ε