Polynomringe
Für einen kommutativen Ring R haben wir den Polynomring R[ X ] mit Hilfe einer Unbestimmten X wie folgt angegeben:
R[ X ] = { p0 + p1 X + … + pn Xn | n ∈ ℕ und p0, …, pn ∈ R }.
Die Definition bedarf der Präzisierung, da nicht klar ist, was eine „Unbestimmte X“ sein soll. Eine Möglichkeit ist, Polynome als Terme einer bestimmten Form in einer Variablen X (einem prinzipiell beliebigen Symbol) aufzufassen, also als bestimmte syntaktische Ausdrücke. Auf diesen Ausdrücken wird eine Addition und Multiplikation in der üblichen Form erklärt, und Polynom-Terme können zu Polynom-Funktionen ausgewertet werden. In der Algebra wird eine andere Präzisierung bevorzugt, die für sich interessante Strukturen ans Licht bringt. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass ein Polynom durch die Folge seiner Koeffizienten eindeutig bestimmt ist. Es liegt daher nahe, ein Polynom
p0 + p1 X + … + pn Xn
mit seiner Koeffizientenfolge (p0, p1, …, pn, 0, 0, 0, …) zu identifizieren. (Die Nullfortsetzung ist prinzipiell vermeidbar, vereinfacht aber die Definition der Addition und Multiplikation von Polynomen.) Dann ist speziell
X = (0, 1, 0, 0, 0, …).
Dieser Ansatz führt zu folgender Konstruktion des Polynomrings:
Definition (Polynom, Polynomring, Koeffizient, Unbestimmte)
Sei R ein kommutativer Ring. Wir setzen:
PolR = { p = (pn)n ∈ ℕ ∈ ℕR | ∃n0 ∀n ≥ n0 pn = 0 }.
Jedes p ∈ PolR heißt das Polynom über dem Ring R mit den Koeffizienten p0, p1, …, pn, … Wir setzen
p + q = (pn + qn)n ∈ ℕ,
p · q = (∑k ≤ n pk qn − k)n ∈ ℕ für alle p, q ∈ PolR,(Cauchy-Produkt)
0 = (0, 0, 0, …), 1 = (1, 0, 0, 0, …), X = (0, 1, 0, 0, 0, …).
Wir schreiben auch R[ X ] statt PolR und nennen (R[ X ], +, ·, 0, 1) den Polynomring über R in der Unbestimmten X.
Die Multiplikation ist motiviert durch das distributive Ausmultiplizieren:
(p0 + p1 X + p2 X2 + … ) (q0 + q1 X + q2 X2 + …) =
p0 q0 + (p0q1 + p1q0) X + (p0 q2 + p1q1 + p2 q0) X2 + …
Der Koeffizient von Xn in diesem Produkt ist gleich ∑k ≤ n pk qn − k.
Nachrechnen zeigt, dass R[ X ] ein kommutativer Ring ist. Weiter gilt: Ist R nullteilerfrei, so auch R[ X ].
Visualisierung des Cauchy-Produkts von p und q:
Die aufsummierten Diagonalen ergeben die Folgenglieder des Produkts p q
Notation und Einbettung von R
Wir schreiben kurz (p0, …, pn) statt (p0, …, pn, 0, 0, 0, …). Weiter identifizieren wir a ∈ R mit (a) = (a, 0, 0, 0, …) ∈ R[ X ], sodass R ⊆ R[ X ].
Beispiele
Über dem Ring ℤ der ganzen Zahlen gilt:
a = (a) = (a, 0, 0, 0, …) für alle a ∈ ℤ
1 + X = (1, 0) + (0, 1) = (1, 1)
a + bX = (a) + b(0, 1) = (a, 0) + (0, b) = (a, b)
X2 = X · X = (0, 1) · (0, 1) = (0, 0, 1)
(1 + X)2 = (1, 1)2 = (1, 2, 1) = 1 + 2X + X2
(1 + X)(1 − X) = (1, 1) (1, −1) = (1, 0, −1) = 1 − X2.
Damit ist der Forderung nach mathematischer Genauigkeit genüge getan: Polynome über einem Ring R sind Folgen in R, die schließlich gleich 0 sind. Die Unbestimmte X ist ein spezielles Polynom. Die Notation R[ X ] ist rein suggestiv, ein Objekt „X“ wird zur Definition von PolR = R[ X ] nicht verwendet. Im Umgang mit Polynomen dominiert die vertraute Darstellung. Denn in Verallgemeinerung der obigen Beispiele gilt (Übung):
Satz (Rückgewinnung der Termdarstellung von Polynomen)
Sei R[ X ] der Polynomring über R. Dann gilt:
(a) | Für alle n ≥ 0 ist Xn = (0, …, 0, 1), mit n Nullen vor der 1. |
(b) | Für alle p = (p0, …, pn) ∈ R[ X ] gilt p = p0 + p1 X + … + pn Xn. |
Polynomringe in mehreren Unbestimmten erhalten wir durch Wiederholung der Konstruktion:
R[ X, Y ] = R[ X ][ Y ], R[ X, Y, Z] = R[ X, Y ][ Z ], …
Die Elemente von R[ X, Y ] lassen sich in der Form
p = ∑n, m ≥ 0 p(n, m) Xn Ym
schreiben, wobei alle bis auf höchstens endlich viele Koeffizienten p(n, m) ∈ R gleich 0 sind. Analog hat ein Polynom in R[ X1, …, Xk ] die Form
p = ∑n1, …, nk ≥ 0 p(n1, …, nk) X1n1 … Xknk.
Der Grad eines Polynoms
Wie üblich wird der Grad eines Polynoms erklärt:
Definition (Grad eines Polynoms)
Sei R[ X ] der Polynomring über R. Wir setzen
deg(0) = −∞ für das Nullpolynom 0,
deg(p) = „das größte n ≥ 0 mit pn ≠ 0“ für alle p ∈ R[ X ] mit p ≠ 0.
Für alle p ∈ R[ X ] heißt deg(p) der Grad von p. Ist p ≠ 0 und so heißt pdeg(p) der Leitkoeffizient von p. Ist der Leitkoeffizient gleich 1, so heißt p normiert.
Beispiele
Grad −∞: | (0, 0, 0, …) = 0 | |
Grad 0: | (p0, 0, 0, 0, …) = p0 | mit p0 ≠ 0 |
Grad 1: | (p0, p1, 0, 0, 0, …) = p0 + p1 X | mit p1 ≠ 0 |
Es gelten (Übung):
Satz (Gradregeln)
Sei R[ X ] der Polynomring über R. Dann gilt für alle p, q ∈ R[ X ]:
(a) | deg(p + q) ≤ max(deg(p), deg(q)), |
(b) | deg(pq) ≤ deg(p) + deg(q). |
Ist R nullteilerfrei, so gilt Gleichheit in (b).
Polynomdivision
In Polynomringen ist folgende Division mit Rest möglich:
Satz (Polynomdivision)
Sei R[ X ] der Poylnomring über R, und seien p, s ∈ R[ X ]. Es gelte s ≠ 0 und der Leitkoeffizient von s sei eine Einheit in R. Dann gibt es eindeutig bestimmte Polynome q, r ∈ R[ X ] mit
p = q s + r, deg(r) < deg(s).
Der Beweis für reelle Polynome kann übernommen werden.
Auswertungspolynome
Ein Polynom ist nach Konstruktion keine Funktion in der Unbestimmten X. Wir können aber jedem Polynom eine derartige Funktion zuordnen, indem wir für die Unbestimmte Ringelemente einsetzen:
Definition (Polynomfunktionen, Nullstelle)
Sei R[ X ] der Polynomring über R. Weiter sei p = (p0, …, pn) ∈ R[ X ]. Dann ist die Polynomfunktion fp : R → R definiert durch
fp(a) = p0 + p1 a + … + pn an für alle a ∈ R.
Gilt fp(a) = 0 für ein a ∈ R, so heißt a eine Nullstelle von p.
Die Polynomfunktion fp : R → R ist eine Transformation auf dem Ring R. Im Allgemeinen müssen wir ein Polynom p von seiner Auswertungsfunktion fp unterscheiden, da verschiedene Polynome dieselbe Auswertungsfunktion besitzen können:
Beispiel
Im Polynomring ℤ3[ X ] über dem Restklassenring ℤ3 sei
p = (X − [ 0 ]) (X − [ 1 ]) (X − [ 2 ]).
Dann gilt fp([ a ]) = 0 für alle [ a ] ∈ ℤ3, da für jedes [ a ] ∈ ℤ3 einer der drei Faktoren von p gleich Null ist. Folglich ist fp = f0 und allgemeiner fpn = f0 für alle n, obwohl p ≠ 0.
Dass die oft stillschweigend durchgeführte Verwechslung von Polynomen mit Polynomfunktionen in vielen Fällen dennoch harmlos ist, liegt daran, dass man für jeden unendlichen Körper K zeigen kann:
fp ≠ fq für alle p, q ∈ K[ X ] mit p ≠ q.
Eine Identifizierung von p mit fp ist also für Polynome über Körpern wie ℚ, ℝ und ℂ möglich.
Abspalten von Nullstellen und Nullteilerfreiheit
Aus der Polynomdivision folgt wie früher, dass sich eine Nullstelle eines Polynoms abspalten lässt. Ist p ∈ R[ X ] und a ∈ R eine Nullstelle von p, so gibt es ein eindeutig bestimmtes Polynom q ∈ R[ X ] mit p = (X − a) q. Dabei können nun aber Nullstellen verloren gehen, d. h. eine Nullstelle b von p mit b ≠ a muss keine Nullstelle des Quotienten q mehr sein. Ein instruktives Beispiel ist:
Beispiel
Wir betrachten den Polynomring ℤ8[ X ] über dem Restklassenring ℤ8 und das Polynom p = X2 − 1. Es gilt deg(p) = 2. Aber p besitzt die drei paarweise verschiedenen Nullstellen [ 3 ], [ 5 ], [ 7 ], da 32 ≡ 52 ≡ 72 ≡ 1 mod(8). Abspalten der Nullstellen liefert
p = (X − [ 3 ]) (X + [ 3 ]) = (X − [ 5 ]) (X + [ 5 ]) = (X − [ 7 ]) (X + [ 7 ]).
Die von reellen Polynomen vertraute Tatsache, dass ein Polynom vom Grad n höchstens n Nullstellen besitzen kann, ist also im Allgemeinen nicht mehr gültig. Ist aber R nullteilerfrei, so können wir die reelle Argumention übertragen: Sind a, b zwei verschiedene Nullstellen von p und ist p = (X − a) q, so gilt
0 = fp(b) = (b − a) fq(b).
Da a ≠ b und R nullteilerfrei ist, muss b eine Nullstelle von q sein. Wiederholtes Abspalten von Nullstellen liefert:
Satz (Anzahl von Nullstellen)
Sei R ein nullteilerfreier Ring, und sei p ∈ R[ X ] mit p ≠ 0. Dann besitzt p höchstens deg(p) Nullstellen.
Obiges Beispiel mit R = ℤ8 und p = X2 − 1 zeigt, dass die Voraussetzung der Nullteilerfreiheit wesentlich ist.
Der Ring der formalen Potenzreihen
Die Konstruktion lässt sich ohne Schwierigkeit auf unendliche Folgen erweitern:
Definition (Ring der formalen Potenzreihen)
Sei R ein kommutativer Ring. Wir definieren +, ·, 0, 1, X wie für R[ X ], wobei wir nun alle unendlichen Folgen in R zulassen. Der entstehende Ring (ℕR, +, ·, 0, 1) heißt der Ring der formalen Potenzreihen über R. Wir bezeichnen diesen Ring auch mit R[[ X ]].
Es gilt also p + q = (pn + qn)n ∈ ℕ und
p · q = (∑k ≤ n pk qn − k)n ∈ ℕ(Cauchy-Produkt)
für alle Folgen p, q in R. Ein Element p = (pn)n ∈ ℕ von R[[ X ]] schreiben wir auch in der Potenzreihenform
p = ∑n ≥ 0 pn Xn.
Formale Potenzreihen können wir wie endliche Polynome behandeln, eine Auswertungsfunktion steht dagegen nicht zur Verfügung, wenn in R keine unendlichen Summen definiert sind.
Aus der Definition der Multiplikation auf R[[ X ]] folgt:
(1, −1, 0, 0, 0, …) (1, 1, 1, …) = (1, 0, 0, 0, …) = 1,
sodass (1, −1, 0, 0, 0, …)−1 = (1, 1, 1, …). In Potenzreihenform gilt also
(1 − X)−1 = ∑n ≥ 0 Xn(geometrische Reihe)
Visualisierung des Cauchy-Produkts
(1, −1, 0, 0, 0, …) (1, 1, 1, …) = (1, 0, 0, 0, …) = 1