Vollständig angeordnete Körper
Der Begriff des angeordneten Körpers ermöglicht eine klare und letztendlich auch einfache Antwort auf die Frage
Was sind die reellen Zahlen?
Wir verwenden hierzu die allgemeinen Schrankenbegriffe für Ordnungen und definieren:
Definition (vollständig angeordneter Körper)
Ein angeordneter Körper K heißt (linear) vollständig angeordnet, falls gilt:
(V) Ist A ⊆ K nichtleer und nach oben beschränkt, so existiert sup(A) in K. ((lineares) Vollständigkeitsaxiom)
In einem vollständig angeordneten Körper besitzt also jede nichtleere nach oben beschränkte Teilmenge ein Supremum. Aus dem Axiom folgt, dass jede nichtleere nach unten beschränkte Teilmenge ein Infimum besitzt (denn dieses Infimum ist das Supremum aller unteren Schranken der Menge). Ob man in der Formulierung des Axioms Suprema oder Infima bevorzugt, ist Geschmackssache.
Der Zusatz „linear“ grenzt den Begriff von der in der Analysis oft betrachteten metrischen Vollständigkeit „jede Cauchy-Folge konvergiert“ ab. Wir diskutieren die metrische Version später.
Als Erstes zeigen wir, dass das Vollständigkeitsaxiom infinitesimale Größen ausschließt, also positive Elemente x mit x < 1, 1/2, 1/3, …, 1/n, … Es ist nützlich, die Nichtexistenz solcher Größen als Axiom zu formulieren:
Definition (Archimedisch angeordneter Körper)
Ein angeordneter Körper K heißt Archimedisch angeordnet, falls gilt
(A) ∀a > 0 ∃n 1/n < a.(Archimedisches Axiom)
Äquivalente Formulierungen sind (Übung):
(A)′ | inf({ 1/n | n ≥ 1 }) = 0. |
(A)″ | ℕ ist nach oben unbeschränkt in K. |
Eine bemerkenswerte Äquivalenz ist:
Satz (Dichtheit der rationalen Zahlen)
Sei K ein angeordneter Körper. Dann sind äquivalent:
(a) | Es gilt das Archimedische Axiom (A). |
(b) | ℚ ist dicht in K. |
Beweis
(a) impliziert (b): Seien a, b ∈ K mit a < b. Ist a < 0 < b, so ist 0 wie gewünscht. Wir nehmen nun an, dass 0 < a < b. Dann ist 0 < b − a. Nach dem Archimedischen Axiom gibt es ein n ≥ 1 mit
(+) 1/n < b − a.
Da { m/n | m ∈ ℕ } ⊇ ℕ nach oben unbeschränkt ist, gibt es ein kleinstes m mit a < m/n. Wir setzen q = m/n. Dann liegt q ∈ ℚ zwischen a und b: Dann nach Minimalität von m ist (m − 1)/n ≤ a. Folglich ist
a < q = m − 1n + 1n ≤ a + 1n < a + b − a = b.
Ist a < b < 0, so gibt es nach dem Gezeigten ein q ∈ ℚ mit − b < q < − a, und dann gilt a < − q < b.
(b) impliziert (a): Ist ℚ dicht in K, so ist ℚ und damit auch ℕ nach oben unbeschränkt in K. Damit gilt (A).
In einem Archimedisch angeordneten Körper ist ℚ dicht: Ist 0 < a < b und 1/n < b − a, so liegt ein Vielfaches von 1/n im Intervall von a bis b.
Wir zeigen nun:
Satz (vollständig angeordnete Körper sind Archimedisch)
Sei K ein vollständig angeordneter Körper. Dann ist K archimedisch angeordnet.
Beweis
Wir zeigen, dass ℕ nach oben unbeschränkt ist. Annahme nicht. Da K vollständig ist, existiert s = sup(ℕ). Dann gibt es ein n ∈ ℕ mit s − 1 < n, denn andernfalls wäre s − 1 eine kleinere obere Schranke von ℕ als s. Wegen s − 1 < n ist aber s < n + 1 und damit s keine obere Schranke von ℕ, Widerspruch.
In einem vollständig angeordneten Körper kann ℕ kein Supremum s besitzen
Ein Beispiel für einen vollständig angeordneten Körper ist (ℝ, +, ·, 0, 1, <). Bis auf die Namen der Zahlen ist dieser Körper das einzige Beispiel:
Satz (Eindeutigkeitssatz für vollständig angeordnete Körper)
Seien (K1, +, ·, 0, 1, <) und (K2, +, ·, 0, 1, <) vollständig angeordnete Körper. Dann sind beiden angeordneten Körper isomorph, d. h. es gibt eine Bijektion φ : K1 → K2, sodass für alle a, b ∈ K1 gilt:
(a) | φ(a + b) = φ(a) + φ(b), |
(b) | φ(ab) = φ(a) φ(b), |
(c) | φ(0) = 0, φ(1) = 1, |
(d) | a < b genau dann, wenn φ(a) < φ(b). |
Beweisskizze
Wir nehmen wieder ℚ ⊆ K1, K2 an. Nun definieren wir eine Abbildung φ : K1 → K2 durch
φ(q) = q für alle q ∈ ℚ,
sowie
φ(a) = sup({ q ∈ ℚ | q < a in K1 }) für alle a ∈ K1 − ℚ,
wobei das Supremum in K2 bestimmt wird. Dann gilt
φ(sup(X)) = sup(φ[ X ]) für alle beschränkten nichtleeren X ⊆ K1,
d. h. φ erhält Suprema. Unter Verwendung der Dichtheit von ℚ in beiden Körpern weisen wir nun nach, dass φ : K1 → K2 bijektiv ist und die behaupteten Homomorphie-Eigenschaften besitzt.
Wir können den Beweis anschaulich so formulieren: Beide Körper enthalten die dichte Menge ℚ der rationalen Zahlen. Damit unterscheiden sie sich nur darin, mit welchen Elementen die Lücken von ℚ (fehlende Suprema) gefüllt werden. Bilden wir die Namen dieser Elemente aufeinander ab, so erhalten wir einen Isomorphismus zwischen K1 und K2.
Zur Konstruktion des Isomorphismus φ : K1 → K2
Damit können wir eine prägnante algebraisch-ordnungstheoretische Antwort auf die Frage Was ist ℝ? geben:
Irgendein vollständig angeordneter Körper.
Denn je zwei derartige Körper unterscheiden sich lediglich durch die Namen der Zahlen. Natürlich benötigt der Eindeutigkeitssatz noch einen flankierenden Existenzsatz:
Satz (Existenzsatz für vollständig angeordnete Körper)
Es existiert ein vollständig angeordneter Körper (K, +, ·, 0, 1, <).
Der Beweis dieses Satzes ist letztendlich mengentheoretischer Natur. Mit Hilfe der Axiome der Mengenlehre lässt sich eine Menge K zusammen mit zwei Operationen +, · : K2 → K, zwei Konstanten 0, 1 ∈ K und einer Relation < auf K so definieren, dass (K, +, ·, 0, 1, <) ein vollständig angeordneter Körper ist. Standardmäßig wird dabei zuerst der angeordnete Körper (ℚ, +, ·, 0, 1, <) konstruiert. Danach werden die Lücken von ℚ mit neuen Elementen gefüllt, die im Endergebnis genau die irrationalen Zahlen sind. Es gibt aber auch Möglichkeiten, den gewünschten Körper direkt aus dem Ring der ganzen Zahlen zu konstruieren. Wir verweisen den Leser für verschiedenen Zugänge, die neben unterschiedlichen Sichtweisen viele interessante Details zu bieten haben, auf die Literatur. Letztendlich liefern alle Wege das bis auf Isomorphie gleiche Ergebnis, nämlich einen vollständig angeordneten Körper, den man fortan mit
(ℝ, +, ·, 0, 1, <) oder kurz ℝ
bezeichnet und Körper der reellen Zahlen oder Linearkontinuum nennt. Dieser Körper erfüllt die Axiome (K1) − (K15) und zudem das Axiom (V). Alle weiteren Eigenschaften lassen sich auf diese 16 Axiome zurückführen. Sie sind damit von der konkreten Konstruktion vollkommen unabhängig. Zu diesen Eigenschaften zählen die verschiedenen Darstellungen reeller Zahlen (b-adische Darstellungen, Kettenbrüche) genauso wie die Grundlagen der Analysis, etwa die Theorie der Konvergenz von Folgen und Reihen.
Das konstruierte Modell ℝ enthält keine infinitesimalen Größen. Natürlich lässt sich diskutieren, ob mit ℝ ein „korrektes“ Modell für ein Kontinuum konstruiert wurde. Wer infinitesimale Größen haben möchte, wird mit Nein antworten. Unabhängig von dieser Diskussion sind zwei Dinge bemerkenswert: (1) Ein angeordneter Körper ohne infinitesimale Größen genügt, um die Analysis („Infinitesimalrechnung“) zu entwickeln. (2) Unter Preisgabe des Axioms (V) können infinitesimale Alternativen zum klassischen Kontinuum ℝ konstruiert werden. In der Nonstandard-Analysis wird ein größeres Modell konstruiert, in dem wir mit infinitesimalen Größen rechnen können. Auch hierzu verweisen wir den Leser auf die Literatur. Hier begnügen wir uns mit:
Beispiel für einen nicht Archimedisch angeordneten Körper
Sei K die Menge aller gekürzten rationalen Funktionen auf R. Dabei heißt f/g mit reellen Polynomen f, g gekürzt, falls es kein Polynom q mit deg(q) ≥ 1 gibt, das ein Teiler von f und g ist. Wir nennen f/g positiv, falls die Leitkoeffizienten von f und g dasselbe Vorzeichen besitzen. Wir setzen:
f1/g1 + f2/g2 | = „die gekürzte Funktion (f1 g2 + f2 g1)/(g1 g2)“, |
f1/g1 · f2/g2 | = „die gekürzte Funktion (f1 f2)/(g1 g2)“, |
f1/g1 < f2/g2, | falls „die gekürzte Funktion f2/g2 − f1/g1 ist positiv“. |
Man weist nach, dass K dadurch zu einem angeordneten Körper wird. Die Menge ℕK ist die Menge aller konstanten Funktionen mit Werten in ℕ, und diese Menge ist nach oben beschränkt durch die Identität id. Die Anordnung ist nicht Archimedisch, 1/id ist eine infinitesimale Größe.