Ganze und rationale Zahlen als Mengen
Beim Ausbau des Zahlsystems von ℕ über ℤ zu ℚ arbeiten Algebra und Mengenlehre Hand in Hand. Im Wesentlichen geht es darum, in kontrollierter Weise zu ℕ additive Inverse und dann zu ℤ multiplikative Inverse hinzufügen. Ein wichtiges Hilfsmittel hierzu sind Äquivalenzrelationen und Faktorisierungen.
Der einfachste Ansatz der Definition der ganzen Zahlen ist vielleicht, ein negatives Vorzeichen festzulegen und ℤ als { +n | n ∈ ℕ } ∪ { −n | n ∈ ℕ* } zu definieren. Eine mengentheoretische Interpretation eines Vorzeichens ist möglich durch + n = (0, n) und − n = (1, n) für n ≥ 1. Algebraisch eleganter ist eine Einführung der ganzen Zahlen über Paare natürlicher Zahlen. Die Grundidee lautet:
n | ist (n, 0), (n + 1, 1), (n + 2, 2), … |
−n | ist (0, n), (1, n + 1), (2, n + 2), … |
n − m | ist (n, m), (n + 1, m + 1), (n + 2, m + 2), … |
Diese Idee können wir mit Hilfe einer Äquivalenz auf ℕ × ℕ umsetzen:
Definition (Konstruktion der ganzen Zahlen aus den natürlichen Zahlen)
Für alle (n, m), (n′, m′) ∈ ℕ × ℕ definieren wir:
(n, m) ∼ (n′, m′) falls n + m′ = m + n′,
ℤ = ℕ2/∼ = { [ n, m ] | n, m ∈ ℕ }, (Menge der ganzen Zahlen)
[ n, m ] + [ n′, m′ ] = [ n + n′, m + m′ ], (Addition auf ℤ)
[ n, m ] · [ n′, m′ ] = [ n n′ + m m′, n m′ + m n′ ], (Multiplikation auf ℤ)
[ n, m ] < [ n′, m′ ] falls n + m′ < m + n′. (Ordnung auf ℤ)
Wir schreiben hier kurz [ n, m ] statt [ (n, m) ]. Man zeigt (zeitaufwendig):
(1) | ∼ ist eine Äquivalenz auf ℕ2. |
(2) | Die Operationen + und · auf ℤ sind wohldefiniert. |
(3) | (ℤ, +, ·, 0, 1) ist ein kommutativer Ring mit 0 = [ 0, 0 ], 1 = [ 1, 0 ] und additiv inversen Elementen −[ n, m ] = [ m, n ]. |
(4) | < ist eine lineare Ordnung auf ℤ. |
Indem wir n ∈ ℕ mit [ n, 0 ] ∈ ℤ identifizieren, erreichen wir:
ℕ = { [ n, 0 ] | n ∈ ℕ } ⊆ ℤ,
n − m = [ n, 0 ] − [ m, 0 ] = [ n, 0 ] + [ 0, m ] = [ n, m ] für alle n, m ∈ ℕ,
ℤ = { n − m | n, m ∈ ℕ } = { n | n ∈ ℕ } ∪ { −n | n ∈ ℕ* }.
Visualisierung der Äquivalenz ∼ auf ℕ × ℕ. Äquivalente Paare sind gleich gefärbt. Die Äquivalenzklassen sind Diagonalen.
Damit ist obige Idee umgesetzt. Dass ganze Zahlen unendliche Mengen sein sollen, ist sicher gewöhnungsbedürftig. Der Leser denke aber noch einmal daran, dass wir exakt definierte Interpretationen auf einer axiomatischen Grundlage anstreben und nicht das wahre Sein der ganzen Zahlen (was immer das ist) ergründen möchten.
Beispiel
Es gilt
−3 | = [ 0, 3 ] = { (n, m) | (n, m) ∼ (0, 3) } |
= { (n, m) | n + 3 = m + 0 } | |
= { (n, m) | n + 4 = m + 1 } | |
= { (n, m) | (n, m) ∼ (1, 4) } | |
= [ 1, 4 ] = 1 − 4. |
Allgemeiner ist −3 = 0 − 3 = 1 − 4 = 2 − 5 = …
Wie für die natürlichen Zahlen können wir wieder einen Eindeutigkeits- und Existenzsatz formulieren: Je zwei Ringe der Charakteristik 0, in denen jedes Ringelement ein Vielfaches der 1 oder ein additives Inverses eines solchen Vielfachen ist, sind isomorph. Unsere Konstruktion von ℤ zeigt, dass ein solcher Ring existiert. Beim Umgang mit einem solchen Ring dominieren die algebraischen Eigenschaften, die konkrete Konstruktion seiner Elemente tritt in den Hintergrund.
Konstruktion der rationalen Zahlen
Ganz ähnlich können wir aus dem Ring der ganzen Zahlen den Körper der rationalen Zahlen konstruieren. Die Idee ist nun, dass ein Paar (a, b) ∈ ℤ × ℤ* den Bruch a/b repräsentiert.
Definition (Konstruktion der rationalen Zahlen aus den ganzen Zahlen)
Für alle (a, b), (c, d) ∈ ℤ × ℤ* setzen wir:
(a, b) ∼ (c, d) falls ad = bc,
ℚ = (ℤ × ℤ*)/∼ = { [ a, b ] | (a, b) ∈ ℤ × ℤ* },(Menge der rationalen Zahlen)
[ a, b ] + [ c, d ] = [ ad + bc, bd ], (Addition auf ℚ)
[ a, b ] · [ c, d ] = [ ac, bd ], (Multiplikation auf ℚ)
[ a, b ] < [ c, d ] falls ad < bc.(Ordnung auf ℚ)
Visualisierung der Äquivalenz ∼ auf ℤ × ℤ*. Äquivalente Paare sind gleich gefärbt und nummeriert. Die Äquivalenzklassen bestehen aus Paaren, die den gleichen Bruch definieren.
Man weist nach (erneut zeitaufwendig), dass (ℚ, +, ·, <) ein wohldefinierter angeordneter Körper ist. Für alle [ a, b ] ≠ 0 ist [ a, b ]−1 = [ b, a ] multiplikativ invers zu [ a, b ]. Identifizieren wir eine ganze Zahl a ∈ ℤ mit der rationalen Zahl [ a, 1 ] ∈ ℚ, so erreichen wir
ℤ = { [ a, 1 ] | a ∈ ℤ } ⊆ ℚ,
a/b = [ a, 1 ] · [ b, 1 ]−1 = [ a, 1 ] · [ 1, b ] = [ a, b ] für alle a, b ∈ ℤ mit b ≠ 0,
ℚ = { a/b | a, b ∈ ℤ, b ≠ 0 } = { a/b | a, b ∈ ℤ, b ≠ 0, a, b teilerfremd }.
Beispiel
1/3 | = [ 1, 3 ] = { ( a, b ) | (a, b) ∼ (1, 3)} |
= { ( a, b ) | 3a = 1b } | |
= { ( a, b ) | 6a = 2b } | |
= { ( a, b ) | (a, b) ∼ (2, 6)} = [ 2, 6 ] = 2/6. |
Ein Eindeutigkeitssatz für die rationalen Zahlen lautet: Je zwei Körper der Charakteristik 0, bei denen sich jedes Körperelement in der Form ± n1/m1 mit n, m ∈ ℕ schreiben lässt, sind isomorph. Unsere Konstruktion zeigt, dass ein solcher Körper existiert.
Einen inhaltlich wie auch didaktisch bedeutsamen Unterschied zur Konstruktion der ganzen Zahlen wollen wir noch explizit festhalten. Von ℕ gelangen wir zu ℤ, indem wir für jedes Element n ein additiv Inverses −n hinzufügen (in welcher Weise auch immer). Fügen wir dagegen zu ℤ für jedes a ein multiplikatives Inverses a−1 = 1/a hinzu, so erhalten wir nur eine Teilmenge der rationalen Zahlen (der Leser möge sich dies an der Zahlengeraden visualisieren). Um zu ℚ zu gelangen, müssen wir noch alle Vielfachen n a−1 der Inversen der ganzer Zahlen hinzufügen. Manche Vielfache fallen dabei zusammen, wie etwa
3−1 = 1/3 = 2/6 = 2 · 6−1 oder
2 · 3−1 = 2/3 = 4/6 = 4 · 6−1.
Wir halten schließlich noch fest:
Konstruktion eines Quotientenkörpers
Die Konstruktion des Körpers ℚ mit Hilfe des Rings ℤ ist allgemeiner Natur: Sie führt von einem beliebigen kommutativen und nullteilerfreien Ring R mit 0 ≠ 1 zum Quotientenkörper K = Q(R) des Rings, in dem jedes Element von der Form a/b mit a, b ∈ R, b ≠ 0, ist. Ist K[ X ] der Polynomring über einem Körper K, so ergibt sich der Körper K(X) = Q(K[ X ]) der rationalen Funktionen über K.