Die relative Widerspruchsfreiheit des Auswahlaxioms

 Nach dem zweiten Gödelschen Unvollständigkeitssatz können wir in ZFC nicht beweisen, dass ZFC widerspruchsfrei ist (es sei denn ZFC ist widerspruchsvoll, denn dann lässt sich alles beweisen). Möglich sind für gewisse Axiome jedoch Beweise der relativen Widerspruchsfreiheit. Ist T ein Axiomensystem und A eine Aussage, so bedeutet die Widerspruchsfreiheit von A relativ zu T:

Ist T widerspruchsfrei, so ist auch T erweitert um A widerspruchsfrei.

Suggestiv können wir dies so formulieren: Die Aussage A ist nicht verantwortlich für einen möglicherweise vorhandenden Widerspruch der Theorie T + A (der um A erweiterten Theorie T). Durch die Hinzunahme von A entstehen keine Widersprüche, die nicht schon vorher da gewesen wären. Ist A relativ widerspruchsfrei zu T, so ist ¬A in T nicht beweisbar, es sei denn T ist widerspruchsvoll.

 In ZFC konnte zunächst die Widerspruchsfreiheit des Fundierungsaxioms relativ zu den übrigen Axiomen von ZFC gezeigt werden. Hierzu wird in ZFC ohne das Fundierungsaxiom ein Modell von ZFC (mit Fundierung) konstruiert. Erstaunlicherweise ist ein solcher Beweis auch für das Auswahlaxiom möglich: Gödel zeigte in den 1930er Jahren, dass das Auswahlaxiom relativ widerspruchsfrei zu ZF ist, indem er in ZF ein Modell von ZFC konstruierte. Dieses Modell ist heute als Gödels konstruktibles Universum L bekannt. In L gilt das Auswahlaxiom in einer sehr starken Form: Zu jedem Beispiel für eine Eigenschaft gibt es dort ein in einem gewissen Sinne kleinstes oder erstes Beispiel, sodass Definitionen der Form „ein …“ immer in „das eindeutige (kleinste) …“ umgewandelt werden können. In Gödels Modell ist zudem die Cantorsche Kontinuumshypothese gültig, sodass diese Hypothese ebenfalls relativ konsistent zu ZFC ist.

 Etwa 30 Jahre nach Gödel konnte Paul Cohen in ZF Modelle konstruieren, in denen AC in verschiedener Art und Weise verletzt ist. So ist zum Beispiel eine Welt möglich, in der alle Axiome von ZF gelten, es aber eine unendliche Menge D gibt, die Dedekind-endlich ist, weil der Welt eine aus Sicht von ZFC existierende Injektion von  nach D fehlt. Ebenso konnte Cohen Modelle von ZFC erzeugen, in denen die Kontinuumshypothese verletzt und genauer die Größe von  fast beliebig einstellbar ist.

 Für Axiome wie das Unendlichkeitsaxiom oder das Potenzmengenaxiom gibt es dagegen keinen Persilschein der relativen Widerspruchsfreiheit. Mit ihrer Aufnahme in die Axiomatik gehen wir das Risiko eines Widerspruchs ein. Wer in der Welt des Unendlichen oder sogar in einer Welt mit verschiedenen Stufen des Unendlichen leben möchte, kann die Gefahr eines Widerspruchs nicht bannen. Die Russell-Antinomie ist ein aus heutiger Sicht einfacher Widerspruch der Naiven Mengenlehre, der sich in wenigen Zeilen herleiten lässt. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass ein Widerspruch kurz sein muss. In ZFC könnte im Jahr 2453 ein Widerspruch gefunden werden, dessen Beweis 123 klassische Buchseiten lang ist. Die Grundlagen der Mathematik müssen dann korrigiert werden, vielleicht sogar in einer sehr tiefgreifenden Art und Weise. Wäre es eine Katastrophe oder ein Triumph, wenn wir zeigen könnten, dass die Annahme einer unendlichen Menge wie  oder stärker  zu Widersprüchen führt? Der Leser möge dies für sich entscheiden. Was auch immer passiert: Das sonst so umstrittene Auswahlaxiom ist in dieser Hinsicht garantiert unschuldig. Wenn ZFC widerspruchsvoll ist, so ist bereits ZF widerspruchsvoll.