Unendlichkeiten
Der Begriff der Injektion dominiert die elementare Mengenlehre. Er ermöglicht uns den Vergleich der „Größe“ von beliebigen Mengen. Weiter lässt er sich auch zur Definition der Unendlichkeit verwenden:
Definition (unendlich, endlich)
Eine Menge M heißt (Dedekind-) unendlich, falls gilt:
Es gibt ein injektives f : M → M mit rng(f) ≠ M.
Weiter heißt eine Menge N (Dedekind-) endlich, falls N nicht unendlich ist.
Gleichwertig zur Dedekind-Unendlichkeit ist: Es existiert eine echte Teilmenge N von M und eine bijektive Funktion f : M → N.
Die endlichen Mengen sind also dadurch gekennzeichnet, dass jede injektive Operation auf ihnen automatisch bijektiv ist.
Ist M unendlich, so gilt
|M| < |℘(M)| < |℘(℘(M))| < …
nach dem Satz von Cantor. Wir lassen uns auf ungeahnte Weiten ein, wenn wir unendliche Mengen und Potenzmengen unendlicher Mengen zulassen: Es gibt Größenunterschiede im Unendlichen!
Wir versuchen nun, die Struktur des Unendlichen etwas genauer zu beschreiben, indem wir Stufen der Unendlichkeit einführen. Hierzu definieren wir:
Definition (abzählbar, überabzählbar)
Eine Menge M heißt abzählbar unendlich oder von der ersten unendlichen Mächtigkeit, falls gilt:
(a) | M ist unendlich. |
(b) | Jede Teilmenge von M ist endlich oder gleichmächtig zu M. |
Wir schreiben dann symbolisch auch |M| = ℵ0 [ Aleph_0 ].
Weiter heißt eine Menge A abzählbar, falls A endlich oder abzählbar unendlich ist, und überabzählbar, falls A nicht abzählbar ist.
Eine analoge Definition isoliert eine weitere Stufe des Unendlichen:
Definition (von der zweiten unendlichen Mächtigkeit)
Eine Menge M heißt von der zweiten unendlichen Mächtigkeit, falls gilt:
(i) | M ist überabzählbar. |
(ii) | Jede Teilmenge von M ist abzählbar oder gleichmächtig zu M. |
Wir schreiben dann symbolisch auch |M| = ℵ1 [ Aleph_1 ].
Ist M unendlich, so ist ℘(M) überabzählbar nach dem Satz von Cantor. Es stellt sich dann die Frage, wie groß der Sprung von M zu ℘(M) ist. Wir formulieren hierzu:
Kontinuumshypothese
Sei M abzählbar unendlich. Dann ist ℘(M) von der zweiten unendlichen Mächtigkeit.
Diese Aussage ist als Hypothese formuliert. Es ist nicht gelungen, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Dagegen ist es aber gelungen zu zeigen, dass sie im Rahmen der üblichen, als widerspruchsfrei vorausgesetzten mengentheoretischen Axiomatik tatsächlich weder beweisbar noch widerlegbar ist. Die Kontinuumshypothese ist, wie man sagt, unabhängig von dieser Axiomatik.
Hat man die natürlichen Zahlen ℕ und die reellen Zahlen ℝ zur Verfügung, so lassen sich die Begriffe „endlich“, „abzählbar“ und „Kontinuumshypothese“ weiter erläutern und motivieren. Denn eine Menge M ist, wie man zeigen kann, genau dann Dedekind-endlich, wenn ein n ∈ ℕ existiert mit |M| = |{ 0, …, n − 1 }|. Weiter lässt sich zeigen, dass eine Menge M genau dann abzählbar unendlich ist, wenn |M| = |ℕ| gilt. Die Abzählbarkeit einer unendlichen Menge B bedeutet also, dass wir die Elemente von B vollständig in der Form b0, b1, …, bn, …, auflisten können, mit Indizes n aus den natürlichen Zahlen. Für die reellen Zahlen ℝ gilt weiter die fundamentale Mächtigkeitsbeziehung
(#) |ℝ| = |℘(ℕ)|,
die wir in den Übungen ausgehend von einem Grundverständnis der reellen Zahlen diskutieren. Damit folgt aus dem Satz von Cantor, dass die reellen Zahlen überabzählbar sind. Anders formuliert: Ist x0, x1, …, xn, … eine Folge reeller Zahlen, so gibt es eine reelle Zahl x mit x ≠ xn für alle n. Die Kontinuumshypothese besagt dann, dass die reellen Zahlen von der zweiten unendlichen Mächtigkeit sind, oder, anders formuliert, dass gilt:
„Ist P eine unendliche Menge reeller Zahlen, so existiert entweder eine Bijektion zwischen P und ℕ oder eine Bijektion zwischen P und ℝ.“
Diese Aussage ist, im verschärften Sinne der nachgewiesenen Unabhängigkeit, offen.
Wir haben die Sprache der Mathematik nun recht genau kennen gelernt, und dabei im Umfeld von Mengen und Bijektionen sogar eine unerwartet reichhaltige und subtile Theorie entdeckt. Als Nächstes wollen wir nun aber die Zahlen nicht mehr nur naiv in Übungsaufgaben und Beispielen verwenden, sondern im Rahmen unserer Sprache einführen und untersuchen.