Das archimedische Axiom
In der Geschichte der Differential- und Integralrechnung spielt die Diskussion um unendlich kleine Größen eine große Rolle, die sich zum Beispiel in der Leibnizschen „dx“-Notation widerspiegelt. Die im 19. Jahrhundert erfolgte Fundierung der Analysis ging einen Weg, der infinitesimale Größen explizit vermied und zeigte, dass man die Analysis ohne diese Größen aufbauen kann. Wir wollen hier noch zeigen, dass und wie obige Konstruktion der reellen Zahlen über Dedekindsche Schnitte infinitesimale Größen ausschließt. Wir betrachten hierzu den folgenden Ordnungsbegriff:
Definition (archimedisch angeordnete Körper)
Ein angeordneter Körper K heißt archimedisch angeordnet, falls für alle x, y ∈ K mit 0 < x < y gilt:
Es gibt ein n ∈ ℕ mit y ≤ nx. (archimedisches Axiom)
Hierbei definieren wir wieder 0 x = 0 und rekursiv (n + 1) x = n x + x für alle n ∈ ℕ.
In einem archimedisch angeordneten Körper kann man also durch endliche Vervielfachung eines beliebig kleinen positiven Elements jedes andere positive Element übertreffen. Jedes positive Element des Körpers eignet sich als Maßstab, mit dessen Hilfe beliebige andere positive Elemente ausgemessen werden können. Damit ist also die Existenz von unendlich kleinen Körperelementen x (d. h. 0 < x < 1/(n 1) für alle n ≥ 1) und unendlich großen Körperelementen y (d. h. y > (n 1) für alle n ∈ ℕ) ausgeschlossen.
Das archimedische Axiom ist, wie man leicht einsehen kann, jeweils äquivalent zu den folgenden Versionen, für die wir wieder ℚ ⊆ K annehmen (vermöge der Identifizierung von ± n/m ∈ ℚ mit ± (n 1)/(m 1) ∈ K):
(a) | Für alle y > 0 gibt es ein n ∈ ℕ mit n > y. |
(b) | 0 = inf ({ 1/n | n ∈ ℕ, n ≠ 0 }). |
(c) | Es gibt ein z > 0 derart, dass { nz | n ∈ ℕ } nicht nach oben beschränkt ist. |
(d) | ℚ ist dicht in K, d. h. für alle x < y in K gibt es ein q ∈ ℚ mit x < q < y. |
Bemerkenswerterweise schließt nun die lineare Vollständigkeit infinitesimale Größen aus:
Satz (lineare Vollständigkeit impliziert archimedische Anordnung)
Ein arithmetisches Kontinuum (K, +, ·, ≤) ist archimedisch angeordnet.
Beweis
Sei x ∈ K, x > 0, und sei X = { nx | n ∈ ℕ }. Wir zeigen, dass X nach oben unbeschränkt ist. Andernfalls existiert x* = sup(X). Dann ist x* − x < x*, also ist x* − x keine obere Schranke von X. Sei also n ∈ ℕ mit x* − x < nx.
Dann ist aber
x* < nx + x = (n + 1)x,
also ist x* keine obere Schranke von X, Widerspruch.
Eine Version der Vollständigkeit, die prinzipiell mit infinitesimalen Größen verträglich ist, werden wir im dritten Abschnitt im Kapitel über Grenzwerte kennen lernen.