Komplexe Zahlen und Quaternionen
Für jede natürliche Zahl n ≥ 1 lassen sich Elemente des n-dimensionalen Kontinuums ℝn = { (x1, …, xn) | xi ∈ ℝ für alle 1 ≤ i ≤ n }, auch Vektoren genannt, einfach addieren, indem man setzt:
(x1, …, xn) + (y1, …, yn) = (x1 + y1, …, xn + yn).
Diese punktweise Addition von Vektoren hat die mittlerweile vertrauten Struktur-Eigenschaften: Die Operation ist assoziativ und kommutativ, es gibt ein neutrales Element 0 = (0, …, 0), und für jeden Vektor (x1, …, xn) gibt es ein additiv Inverses, nämlich (− x1, …, − xn).
Eine natürliche Frage ist nun: Können wir auf dem ℝn auch eine Multiplikation einführen, sodass zusammen mit der Addition ein Körper entsteht?
Der naive Ansatz der punktweisen Multiplikation ·p scheitert schon in der Ebene. Diese Operation ist zwar assoziativ und kommutativ, und zudem ist (1, 1) multiplikativ neutral, da (x, y) ·p (1, 1) = (x · 1, y · 1) = (x, y), jedoch gibt es vom Nullvektor 0 = (0, 0) verschiedene Vektoren, die kein multiplikatives Inverses besitzen. So ist zum Beispiel die Gleichung (1, 0) ·p (x, y) = (1, 1) unlösbar, da ja 0 · y = 0 für alle y gilt. Also hat (1, 0) kein multiplikativ inverses Element für die punktweise Multiplikation ·p.
Die Antwort auf obige Frage lautet: Es gibt eine Multiplikation auf dem ℝ2, durch die ℝ2 zum sog. Körper der komplexen Zahlen wird. Dagegen gibt es keine Körper-Multiplikation auf dem ℝn für alle n ≥ 3. Weiter gibt es noch zwei „gute“ multiplikative Operationen auf dem ℝ4 und dem ℝ8. Unter diesen Operationen wird der ℝ4 zum Zahlbereich der sog. Quaternionen und der ℝ8 zum Zahlbereich der sog. Oktaven. Die Multiplikation der Quaternionen ist aber nicht mehr kommutativ, und die Multiplikation der Oktaven ist weder kommutativ noch assoziativ. Wir wollen uns hier auf die komplexen Zahlen konzentrieren, die in der mathematischen Analysis eine überragende Rolle spielen. Am Ende des Kapitels geben wir aber die Definition der Quaternionen noch an.
Definition (die komplexen Zahlen ℂ)
Wir setzen ℂ = ℝ2. Die Elemente von ℂ heißen komplexe Zahlen.
Für alle (x1, y1), (x2, y2) ∈ ℂ setzen wir:
(x1, y1) + (x2, y2) = (x1 + x2, y1 + y2),
(x1, y1) · (x2, y2) = (x1 x2 − y1 y2, x1 y2 + y1 x2),
unter Verwendung der reellen Arithmetik auf der rechten Seite.
Wir reichen unten sowohl eine Motivation als auch eine anschauliche Interpretation der Multiplikation nach.
Die beiden Operationen sind, wie man leicht sieht, assoziativ und kommutativ. Weiter ist die komplexe Zahl 0 = (0, 0) additiv neutral. Die Zahl (1, 0) ist multiplikativ neutral, denn für alle (x, y) ∈ ℂ gilt:
(x, y) · (1, 0) = (x · 1 − y · 0, y · 1 + x · 0) = (x, y).
Für alle (x, y) ∈ ℂ ist (− x, − y) additiv invers zu (x, y). Weiter ist für alle (x, y) ∈ ℂ, (x, y) ≠ 0, die komplexe Zahl (x/w, − y/w) mit w = x2 + y2 multiplikativ invers zu (x, y), denn
(x, y) · (x/w, − y/w) = ((x2 + y2)/w, (xy − yx)/w) = (w/w, 0/w) = (1, 0).
Schließlich gilt auch das Distributivgesetz, wie man leicht nachrechnet. Damit haben wir gezeigt:
Satz (ℂ ist ein Körper)
Die komplexen Zahlen ℂ bilden einen Körper mit additiv neutralem Element 0 = (0, 0) und multiplikativ neutralem Element 1 = (1, 0).
Wir können wieder ℝ als Teilmenge von ℂ auffassen, indem wir jedes x ∈ ℝ mit (x, 0) ∈ ℂ identifizieren. Diese Identifikation respektiert die reelle Arithmetik, und sie ist auch mit der Notation 1 = (1, 0) für das neutrale Element der Multiplikation konsistent. Zudem gilt nun
x0 · (x, y) = (x0, 0) · (x, y) = (x0 x, x0 y)
für alle x0, x, y ∈ ℝ. Damit setzt die komplexe Multiplikation die übliche skalare Multiplikation (Streckung eines Vektors) fort.
Neben 1 = (1, 0) ist (0, 1) der zweite kanonische Vektor der Ebene. Er ist eine prominente Figur in der Theorie der komplexen Zahlen:
Definition (imaginäre Einheit)
Wir setzen i = (0, 1) und nennen i ∈ ℂ die imaginäre Einheit.
Für die imaginäre Einheit gilt:
i2 = (0, 1) · (0, 1) = (0 − 1, 0 − 0) = (− 1, 0) = − 1,
d. h. i ist in ℂ eine Quadratwurzel von − 1, und weiter gilt dies dann auch für − i. Das Polynom z2 + 1 hat also die beiden Nullstellen i und − i in ℂ. Allgemeiner gilt der folgende nichttriviale Satz, der die komplexen Zahlen von den reellen Zahlen hervorhebt, und den wir hier ohne Beweis angeben:
Satz (Fundamentalsatz der Algebra)
Jedes Polynom P(z) = αn zn + … + α1 z + α0 mit n ≥ 1 und Koeffizienten αi ∈ ℂ, αn ≠ 0, besitzt eine Nullstelle in ℂ.
Aus der Gleichung i2 = − 1 folgt, dass sich der Körper der komplexen Zahlen nicht anordnen lässt, denn in einem angeordneten Körper ist das Quadrat einer von 0 verschiedenen Zahl immer positiv. Mit dem Zahlbegriff verbinden wir seit der Kindheit ein „größer“ und „kleiner“, ein „mehr“ und „weniger“. Beim Übergang von ℝ nach ℂ müssen wir diese Intuition lockern, oder uns weigern, die Elemente von ℂ Zahlen zu nennen. Rechnen können wir mit ihnen hervorragend. Die Zahl i erlaubt zudem eine klammerfreie Darstellung von komplexen Zahlen, die den Rechenaspekt erhöht und den Zahlcharakter dieser Gebilde unterstützt. Für alle (x, y) ∈ ℂ gilt nämlich
(x, y) = x + i y.
Damit kann eine Rechnung mit komplexen Zahlen als Rechnung mit reellen Zahlen aufgefasst werden, in der zusätzlich das Objekt i erscheint, das aufgrund der Multiplikations-Eigenschaft i2 = − 1 in Rechnungen zuweilen auch wieder verschwindet. Damit kann, ausgehend von reellen Zahlen, ein imaginärer Umweg entstehen, der am Ende der Rechnung wieder in ℝ landet. In dieser Form wurden die komplexen Zahlen lange verwendet, bevor sie sich dann schließlich als mathematisch reale Objekte ohne imaginäre Anmutung durchsetzten.
Wir haben oben die Multiplikation ad hoc präsentiert. Sie lässt sich aus den Forderungen ableiten, dass 1 = (1, 0) multiplikativ neutral und i2 = (0, 1)2 = − 1 sein soll. Damit geht ℂ in eindeutiger Weise aus der Forderung hervor, dass (1, 0) die Rolle der 1 übernimmt und (0, 1) eine Wurzel von − 1 ist.
Die Multiplikation in ℂ lässt eine sehr sympathische geometrische Interpretation zu. Für jede komplexe Zahl (x, y) definieren wir den Betrag oder die Länge |(x, y)| von (x, y) durch
|(x, y)| = .
Der Betrag von z = x + i y ist also die Euklidische Länge des Vektors (x, y). Weiter definieren wir das Argument von (x, y) ≠ 0 als den im Gegenuhrzeigersinn gemessenen Winkel des Vektors (x, y) zur positiven x-Achse. Das Produkt zweier komplexer Zahlen erhält man nun wie folgt:
„Multipliziere die Längen der beiden Vektoren und addiere ihre Argumente.“ (geometrische Multiplikationsregel)
Die Längenbehauptung dieser Regel lässt sich durch einfaches Nachrechnen beweisen, für die Winkeladdition kann man die trigonometrischen Funktionen heranziehen. Der Beweis fällt bei einer umfassenderen Untersuchung der komplexen Zahlen einfach ab, sobald die Exponentialfunktion eingeführt ist. Man kann aber die Regel ohne jeden analytischen Aufwand beweisen, wenn man elementares geometrisches Argumentieren zulässt:
Beweis (Beweis der Multiplikationsregel durch geometrische Argumentation)
Wir lesen die Regel als Definition einer Multiplikation ∗ für Vektoren im ℝ2.
Elementare geometrische Überlegungen zeigen nun, dass ℝ2 unter dieser Multiplikation zu einem Körper wird. Das Inverse von (x, y) ≠ 0 ergibt sich z. B. aufgrund der geometrischen Multiplikationsregel durch Spiegelung von (x, y) an der x-Achse und Skalierung auf die inverse Länge. Weiter gilt unter der Multiplikationsregel
i ∗ i = − 1,
denn i = (0, 1) hat Länge 1 und einen rechten Winkel mit der x-Achse, dessen Verdopplung auf die negative Achse führt. Zudem ist (1, 0) multiplikativ neutral, denn (1, 0) hat Länge 1 und Argument 0.
Damit haben wir einen Körper (ℝ2, +, ∗) mit neutralem Element 1 = (1, 0) und den Eigenschaften i ∗ i = − 1 für i = (0, 1) vorliegen. Nach obiger Bemerkung ist die Multiplikation ∗ identisch mit der Multiplikation auf ℂ.
die Lösungen z1, …, z7 von z7 = 1
Der Leser kann sich mit der geometrischen Multiplikationsregel nun sofort die n verschiedenen Lösungen der komplexen Gleichung zn = 1 visualisieren, die sog. komplexen n-ten Einheitswurzeln. Sie bilden ein regelmäßiges n-Eck aus Punkten auf dem Einheitskreis der Ebene. Die Zahl 1 = (1, 0) gehört diesem n-Eck stets an.
Wir wollen die komplexen Zahlen nun noch etwas genauer untersuchen. Hierzu führen wir noch einige nützliche Begriffe ein.
Definition (Realteil, Imaginärteil)
Für alle z = (x, y) ∈ ℂ heißt x der Realteil und y der Imaginärteil von z, in Zeichen x = Re(z) und y = Im(z).
Für alle komplexen Zahlen z gilt also
z = Re(z) + i Im(z).
Zwei komplexe Zahlen sind genau dann gleich, wenn sie in Real- und Imaginärteil übereinstimmen. Zudem gilt für alle komplexen Zahlen z, z′:
Re(z + z′) = Re(z) + Re(z′), Im(z + z′) = Im(z) + Im(z′).
Definition (komplexe Konjugation)
Für alle z ∈ ℂ setzen wir z = Re(z) − i Im(z) und nennen z die komplexe Konjugation von z.
Anschaulich ist die komplexe Konjugation einfach die Spiegelung des Vektors z der Ebene ℝ2 an der x-Achse. Für alle z, u, w ∈ ℂ gelten die folgenden Eigenschaften, deren Beweis wir dem Leser zur Übung überlassen:
(a) | Re(z) = (z + z)/2, Im(z) = (z − z)/(2i). |
(b) | (z) = z. |
(c) | (u + w) = u + w, (uw) = u w. |
(d) | |z|2 = z z. |
Quaternionen
Wir wollen nun noch schildern, wie sich der ℝ4 mit einer „guten“ Multiplikation ausstatten lässt. Hierzu seien
1 = e1 = (1, 0, 0, 0), | i = e2 = (0, 1, 0, 0), |
j = e3 = (0, 0, 1, 0), | k = e4 = (0, 0, 0, 1). |
Wir setzen nun
1 1 = 1, 1 i = i 1 = i, 1 j = j 1 = j, 1 k = k 1 = k,
i2 = j2 = k2 = − 1,
i j = k, j i = − k, i k = − j, k i = j, j k = i, k j = − i.
Diese Regeln für die Multiplikation kann man sich leicht merken, wenn man i, j, k zyklisch anordnet. Die Multiplikation eines benachbarten Paares der Reihe i, j, k, i, j springt „vorwärts“ auf das nächste Element und „rückwärts“ auf das vorangehende Element mit einem Minuszeichen.
Wir definieren nun eine Multiplikation auf dem ℝ4 durch
(x1, …, x4) · (y1, …, y4) = ∑1 ≤ n, m ≤ 4 (xn ym) (en em) ∈ ℝ4,
wobei xn ym das reelle Produkt von xn und ym bezeichnet und in der Summe wie üblich skalar multipliziert und punktweise addiert wird.
Ausrechnen unter Verwendung obiger Werte für en em liefert dann die folgende Produktregel
(x1, …, x4) · (y1, …, y4) = | (x1 y1 − x2 y2 − x3 y3 − x4 y4) 1 + |
(x1 y2 + x2 y1 + x3 y4 − x4 y3) i + | |
(x1 y3 − x2 y4 + x3 y1 + x4 y2) j + | |
(x1 y4 + x2 y3 − x3 y2 + x4 y1) k. |
Berechnen wir (y1, …, y4) · (x1, …, x4), so ändern sich in der Produktregel genau die Vorzeichen der sechs Terme x3 y4, x4 y3, x4 y2, x2 y4, x2 y3 und x3 y2.
Wir definieren:
Definition (die Quaternionen ℍ)
Wir setzen ℍ = ℝ4 und versehen ℍ mit der punktweisen Addition und obiger Multiplikation. Die Elemente von ℍ heißen (Hamiltonsche) Quaternionen.
Für alle α ∈ ℝ und p = (x1, …, x4) ∈ ℍ gilt (α, 0, 0, 0) · p = (α x1, …, α x4) = α p. Wir können also wieder α ∈ ℝ mit (α, 0, 0, 0) ∈ ℍ identifizieren. Für alle Quaternionen p = (x1, x2, x3, x4) gilt dann p = x1 + x2 i + x3 j + x4 k. Wir setzen
p = x1 − x2 i − x3 j − x4 k,
und nennen wieder p die Konjugierte von p. Weiter sei w = x12 + x22 + x32 + x42. Man rechnet nun leicht nach, dass p · p = p · p = w gilt. Damit ist also für alle Quaternionen p ≠ 0 die Quaternion p/w multiplikativ invers zu p. Weiter zeigt man nun leicht, dass die Quaternionen einen Schiefkörper bilden, d. h. es gelten alle Körperaxiome mit Ausnahme der Kommutativität der Multiplikation. Zusätzlich gilt das zweite Distributivgesetz (p1 + p2) p3 = p1 p3 + p2 p3, das sich nun ja mangels Kommutativität nicht mehr aus dem ersten ableiten lässt.
Oft ist es nützlich, Quaternionen als Elemente von ℂ2 aufzufassen. Wir identifizieren also jedes (x1, x2, x3, x4) ∈ ℝ4 mit ((x1, x2), (x3, x4)) ∈ ℂ2. Auf ℂ2 definieren wir die Addition punktweise und die Multiplikation durch
(u, v) · (w, z) = (u w − v z, u z + v w) für alle (u, v), (w, z) ∈ ℂ2,
unter Verwendung der komplexen Multiplikation und Konjugation. Abgesehen von den beiden komplexen Konjugationen ist diese Multiplikation strukturell identisch mit der Multiplikation auf ℂ!
Für alle u = (x1, x2), v = (x3, x4), w = (y1, y2), z = (y3, y4) ∈ ℂ gilt nun:
(u, v) · (w, z) =
((x1, x2) (y1, y2) − (x3, x4) (y3, − y4), (x1, x2) (y3, y4) + (x3, x4) (y1, − y2)) =
((x1 y1 − x2 y2, x1 y2 + x2 y1) − (x3 y3 + x4 y4, − x3 y4 + x4 y3), (x1 y3 − x2 y4, x1 y4 + x2 y3) + (x3 y1 + x4 y2, − x3 y2 + x4 y1)) =
((x1 y1 − x2 y2 − x3 y3 − x4 y4, x1 y2 + x2 y1 + x3 y4 − x4 y3),
(x1 y3 − x2 y4 + x3 y1 + x4 y2, x1 y4 + x2 y3 − x3 y2 + x4 y1)),
und damit haben wir obige Definition wieder gefunden. Die beiden Zugänge zu den Quaternionen über ℝ4 und ℂ2 sind also äquivalent. Die Eleganz der ℂ2-Darstellung zeigt sich z. B. in der Identifikation der multiplikativen Inversen. Für alle (u, v) ∈ ℂ2 sei w = u u + v v ∈ ℝ. Ist (u, v) ≠ 0, so ist w ≠ 0 und es gilt
(u, v) (u/w, − v/w) = ((u u + v v)/w, (− u v + v u)/w) = (1, 0) = 1.
Ebenso gilt auch (u/w, − v/w) (u, v) = 1 und damit ist (u/w, − v/w) multiplikativ invers zu (u, v).